Der Ukraine-Krieg erinnert an alte Tugenden, er stellt sie nicht infrage
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main - Durch den russischen Überfall auf die Ukraine scheint der Pazifismus diskreditiert worden zu sein.
Wobei sein Wesen und seine Bedeutung selten näher erläutert werden. Dass unter diesem Begriff sehr verschiedene Haltungen zur Gewalt subsumiert werden, ist manchen gar nicht klar. Die veröffentlichte Meinung unterscheidet kaum zwischen dogmatischem Pazifismus, Gewaltfreiheit oder zivilem Widerstand. Dass militärische Gewalt zwischen den Völkern angesichts ihres riesengroßen Zerstörungspotenzials kein Mittel der Politik sein darf, gilt als Konsens, ist aber vor allem ein Lippenbekenntnis, dem selten ein Handeln folgt. In Deutschland wird in diesem Zusammenhang auch die grundgesetzlich garantierte Gewissensentscheidung diskutiert, den Kriegsdienst verweigern zu können.
Im Streit um die Auslegung von Artikel 4, Absatz 3 des Grundgesetzes („Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“) setzte sich bereits ab der Mitte der 1960er Jahre die juristische Auffassung durch, dass als Gewissensentscheidung jede ernsthafte, an den Kategorien von Gut und Böse orientierte persönliche Entscheidung gelten kann (siehe „Gerhard Leibholz & Hans-Justus Rinck, Kommentar zum Grundgesetz anhand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Köln 1968 ff).
Der politisch unabhängige „Verband der Kriegsdienstverweigerer (VK)“, der 1966 eine vielbeachtete Informationskampagne in der gesamten Bundesrepublik startete („Aktion 4/3“, deren Symbol ein umgedrehter Stahlhelm war, aus dem eine Blume spross), wies vor dem Hintergrund der gültigen Rechtsprechung ausdrücklich auf diesen Sachstand hin. Folglich war und ist die Gewissensentscheidung gegen den Kriegsdienst nicht eindimensional.
Sie kann dogmatisch-pazifistisch und damit passiv sein im Sinn des unbedingten Lebenserhalts. Aber sie kann auch situativ der Gewaltfreiheit höchste Priorität einräumen, jedoch in anderen Zusammenhängen zu einer völlig anderen Auffassung gelangen. Der an den TV-Bildschirmen nachvollziehbar gewesene Vietnamkrieg führte im Kontext einer kritischen Rückblende auf den Nazi-Staat und einer ebenso schonungslosen Aufarbeitung von Adenauers restaurativer Politik dazu, dass ab 1968 die Anträge auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer in die Höhe schnellten. In den Großstädten entschieden sich vielfach 90 Prozent der männlichen Abiturienten gegen den Wehrdienst.
Ich habe zwischen 1966 und 1969 im Ruhrgebiet ehrenamtlich in der KDV-Beratung gearbeitet. Dogmatischen Pazifisten bin ich dabei extrem selten begegnet. Vorherrschend war das Bekenntnis zur Gewaltfreiheit, das Ausnahmen anerkannte und sogar bewaffnete UN-Aktionen unterstützte. Als ich selbst vor dem Ausschuss erscheinen musste, der die Hieb- und Stichfestigkeit meiner Gewissensentscheidung feststellen sollte, wurde auch die in vielen Variationen existierende Frage nach der Notwehr gestellt. Ich antwortete sinngemäß, dass ich einem Angreifer das Gemächte zerschmettern und damit seine Männlichkeit zerstören würde. Denn wer böse und wer gut wäre, sei in dem konstruierten Fall eindeutig klar. Im Gegensatz dazu sei man Vater, der im Zweiten Weltkrieg eine Flak-Scheinwerferbatterie in Nordafrika kommandiert hatte, sich lange nicht sicher gewesen, ob die feindlichen Flieger tatsächlich aus niederen Beweggründen, nämlich aus Hass gegen Deutschland und Italien, angriffen. Als er die Zusammenhänge – viel zu spät - erkannte, musste er wohl oder übel auf der Seite der Bösen bis zum bitteren Ende weiterkämpfen – in Rom, in Südfrankreich, in Belgrad und zum Schluss am Rhein. In eine solche Situation aber wolle ich nicht kommen, wolle mich nicht gegen das eigene Lebensinteresse und das von anderen manipulieren und instrumentalisieren lassen. Eine solche Haltung sei mit meinen moralischen Grundsätzen unvereinbar. Nach einer 40-minütigen, teilweise kontroversen Verhandlung wurde ich anerkannt und leistete später zivilen Ersatzdienst.
Als Willy Brandt die Politik des Wandels durch Annäherung 1970 begann, fand sie meinen Beifall. Obwohl mir die Machtcliquen im Kreml und in Ost-Berlin herzlich unsympathisch waren. Aber ich hatte auch registriert, dass wegen des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung in der BRD die DDR den Wehrpflichtigen immerhin (wenn auch unter hohen Hürden) einräumte, als „Bausoldaten“ Dienst leisten zu können – eine Regelung, die faktisch nur christliche Pazifisten in Anspruch nehmen konnten. In der Schweiz wurden damals Verweigerer kriminalisiert und häufig zu Haftstrafen verurteilt. Die christliche Friedensbewegung in der DDR, die unter dem biblischen Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ ab den frühen 80er Jahren antrat und später zur friedlichen Revolution beitrug, wäre ohne die Entspannungspolitik nicht denkbar gewesen. Auch das Passierscheinabkommen in Berlin war eine Folge des „Tauwetters“, ebenso der Abbau der Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenze. Das gute, vorbildhafte Beispiel, das Schule machen soll, ist nicht nur auf Goethes Theaterstück „Iphigenie auf Tauris“ beschränkt, welches das Humanitätsideal der deutschen Klassik in Erinnerung ruft. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass die Sowjetunion der deutsch-deutschen Vereinigung nicht zugestimmt hätte (möglicherweise auch nicht die Briten und Franzosen), wenn in Bonn so wie in den 50er und 60er Jahren die Ideologie des Kalten Kriegs vorgeherrscht hätte. Dass die Früchte von Brandts Friedenspolitik letztlich Helmut Kohl unverdient in den Schoß fielen, ist eine Ironie der Geschichte.
Auch nach dem Zerfall der Sowjetunion und später nach der Wahl Putins zum russischen Präsidenten hielt ich die Politik der Verständigung für die einzig vertretbare – in Deutschland, in Europa, in der Welt. Dass der neue Präsident sich sowohl von den Reformern Jelzin und Gorbatschow als auch von den zwar autoritären, aber letztlich besonnen handelnden Sowjetführern absetzte, ist nicht dem Pazifismus anzulasten. Vielmehr ist es ein Versagen der westlichen, keineswegs pazifistischen, Politik, die sich zunehmend einem globalen Neoliberalismus verpflichtet sieht und die unterschiedlichen Begehrlichkeiten in Ost und West ignorierte bzw. falsch analysierte. Denn dort hatte sich der Kapitalismus erneut mit dem nationalistischen Imperialismus vermischt. Die NATO, die von einigen, die zu kurz denken, als Mitverursacher gesehen wird, war längst zum Zuschauer degradiert worden. Der Untergang der Sowjetunion eröffnete einen neuen Wettbewerb, der jedoch von internationalen Kartellen bestimmt wird. Russland hat in diesem Konkurrenzkampf kräftig mitgemischt, was auch das Entstehen von Finanz- und Wirtschaftsoligarchen in diesem Land belegt. Als am 24. Februar dieses Jahres russische Truppen die sich allmählich demokratisierende Ukraine überfiel (was den Angriff mit auslöste), hat die neue weltweite Marktwirtschaft versagt, nicht aber der Pazifismus.
Letzterer muss deutlich machen, dass eine künftige Welt nur pazifistisch sein kann. Denn angesichts der von Menschen verursachten Klimaveränderung, von durch Hunger und Elend entfesselten Fluchtbewegungen, angesichts von Despotie, Rassismus, religiösem Fundamentalismus und Neoliberalismus kann die Erde nur überleben, wenn ihre Bewohner es schaffen, neue Werte zu definieren und durchzusetzen. Ebenso müssen die Friedensbewegten – wie zu Zeiten der 68er - auch den Schneid aufbringen, den Kampf um Freiheit, Humanität, Gerechtigkeit und Solidarität gegebenenfalls mit Waffen zu führen. Bereits gegen Hitler halfen keine Gebete und keine Appelle. Im Ringen mit Putin und anderen Autokraten werden sie ebenfalls nichts ausrichten. Nach der letzten Schlacht wird es dann darauf ankommen, tatsächlich und endgültig Schwerter zu Pflugscharen zu machen.
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Das Logo des Verbands der Kriegsdienstverweigerer VK, das auch zum Symbol der Kampagne „Aktion 4/3“ wurde
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