Serie: DER LANGE SCHATTEN VON LEMBERG, Teil 1/4
Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) - »Es fing damit an«, schrieb die liberale Schweizer Zeitung »Der Bund« am 18. März 1960, »dass ›Die Tat‹, das wöchentlich erscheinende Organ der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, im September 1959 behauptet hatte, Theodor Oberländer stehe unter dem Verdacht, im letzten Weltkrieg an Massenmorden in Lemberg beteiligt gewesen zu sein.« Professor Theodor Oberländer, Doktor der Agrarwissenschaft und der politischen Wissenschaft, war damals im siebenten Jahr Minister für Flüchtlinge, Vertriebene und Kriegssachgeschädigte unter Bundeskanzler Konrad Adenauer.
Begonnen hatte seine Nachkriegskarriere im BHE, im Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten. Noch bevor dieser an der Fünfprozenthürde scheiterte, kehrte Oberländer seiner ursprünglichen politischen Heimat den Rücken und wechselte zur CDU über. Nichts deutete auf ein vorzeitiges Ende seiner Ministerlaufbahn hin, bis plötzlich der erwähnte Artikel
alles veränderte.
Oberländer und seine „Nachtigallen“
Mein Schreibtisch stand damals in einem von Bomben stark beschädigten Haus im Frankfurter Osten. Auf einer klapprigen Maschine tippte ich jenen Beitrag, der am 26. September 1959 unter der Überschrift »Minister Oberländer unter schwerem Verdacht« in der Frankfurter antifaschistischen Wochenzeitung »Die Tat« erscheinen sollte. Geschildert wurde folgender Sachverhalt: Oberländer hatte während der NS-Zeit einer militärischen Sondereinheit angehört, die sich »Nachtigall« nannte. Sie war Ende 1940 von der Abteilung II des Amtes Auslandsabwehr im Oberkommando der Wehrmacht für einen künftigen Einsatz im Osten aufgestellt worden und bestand aus nationalistisch gesinnten Ukrainern, die sich auf die Seite der Deutschen geschlagen hatten. Mit dieser Einheit nahm Oberländer als Verbindungsoffizier am Überfall auf die Sowjetunion teil. Sie drang als erster Verband in die Stadt Lemberg (Lwiw) ein, wo seine Angehörigen – so hieß es in dem Artikel – eine »beträchtliche Initiative« bei Säuberungen und Pogromen entfaltet hätten. Mehr als dreißig Rechtsanwälte, Ärzte, Geistliche und Wissenschaftler seien während der Anwesenheit der »Nachtigallen« in Lemberg ermordet worden.
Diese Darstellung stützte sich auf zwei Quellen, die ich für seriös hielt: Auf ein Buch des CDU-Bundestagsabgeordneten und früheren Geheimdienstoffiziers unter Admiral Canaris, Dr. Paul Leverkühn, mit dem Titel »Der geheime Nachrichtendienst der deutschen Wehrmacht«, und auf ein Buch des amerikanischen Geschichtsforschers A. Dallin mit dem Titel »Deutsche Herrschaft in Russland 1941 – 1945«. Den Schuldvorwurf gegenüber Oberländer leitete ich aus den geschilderten Einzelheiten ab. Als der Artikel in Satz ging, hatte ich nicht das Gefühl, eine weltbewegende Sache auf den Weg gebracht zu haben. Hinweise auf die NS-Vergangenheit von Politikern oder Richtern standen praktisch in jeder Ausgabe, ohne dass es jemals ein nennenswertes Echo gegeben hat. Während ich guten Gewissens den kommenden Tagen entgegensah, wartete in Bonn Theodor Oberländer bereits ungeduldig auf »Die Tat«, die ihn ansonsten kaum interessiert haben dürfte. Doch diesmal war alles anders. Die Redaktion hatte nämlich in der vorausgegangenen Ausgabe ohne Namensnennung ein Foto des Ministers veröffentlicht und Enthüllungen über die Vergangenheit dieser – wie es hieß – heute hochgestellten Persönlichkeit angekündigt. Davon muss Oberländer durch einen Informanten Wind bekommen haben.
Drucktechnisch wurde »Die Tat« in Fulda hergestellt. Dort lief die Rotationsmaschine für die Nummer 39 auch wie gewohnt an, aber in jener Woche warteten die Leser vergeblich auf ihre Zeitung. Der Minister höchstpersönlich war nach Fulda geeilt, um an Ort und Stelle die sofortige Beschlagnahme der gesamten Ausgabe zu erwirken. Zu nächtlicher Stunde erließ ein Amtsrichter – einen Bundesminister aus Bonn leibhaftig vor Augen – die von Oberländer beantragte Verfügung. Aber wie das im Leben mitunter so geht – die Absicht des Ministers verkehrte sich in ihr Gegenteil. Nachdem die Nacht-und-Nebel-Aktion bekannt geworden war, fragten die Zeitungen landauf und landab nach den Gründen der Beschlagnahme. So erfuhr die Öffentlichkeit auf Umwegen doch noch von den Vorwürfen, deren Verbreitung der Minister hatte verhindern wollen. (Fortsetzung folgt).
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