Bildschirmfoto 2022 09 10 um 02.27.16Israels Diasporaminister Nachman Shai im Gespräch über seine letzten Wochen in der Regierung, die Herausforderungen für die jüdische Diaspora und die neue Rolle Israels für Juden ausserhalb Israels

Yves Kugelmann

Tel Aviv (Weltexpresso) - tachles: Sie wollen die Juden in der Diaspora mehr einbinden und Projekte zur Stärkung der jüdischen Gemeinden ausserhalb Israels entwickeln. Gibt es schon konkrete Pläne für die angekündigte neue Verbindung Israels mit der Diaspora? 

Nachman Shai: Ganz konkrete Pläne gibt es noch nicht – aber es zählt das Prinzip. Und dieses ist nun, dass wir auf die Diaspora schauen und uns selbst fragen wollen, was wir für Jüdinnen und Juden tun können, die ausserhalb Israels leben. Das steht im Gegensatz zum traditionellen Ansatz, der davon ausging, was die Diaspora für Israel tun kann, und ob sie dies ausreichend und am richtigen Ort macht. Sicher werden die Beiträge der Diaspora an israelische Projekte weitergehen, aber Israel ist ja in jeder Beziehung – wirtschaftlich, militärisch, sicherheitstechnisch usw. – ein starkes Land und als solches in der Welt anerkannt. Umso mehr meinen wir, dass wir uns um die jüdische Bevölkerung in anderen Ländern kümmern sollen. Wir können in einer Welt, die sich in vieler Hinsicht verändert hat, nicht länger nur auf unser Leben in Israel fokussiert bleiben.


Das ist ja nichts Neues. Schon in den Neunzigerjahren sagte Jossi Beilin, dass Israel das Geld der Diaspora eigentlich nicht mehr brauche, der ehemalige Minister Natan Sharansky forderte ein Diaspora-Parlament. Was braucht Israel und was wird konkret umgesetzt?

Es gibt aktuell ca. 15 Millionen Juden weltweit, mehr oder weniger die Anzahl von vor dem Zweiten Weltkrieg. Und viele jüdische Gemeinden in der Diaspora sind am Schrumpfen, in vielen Fällen verschwinden sie ganz. Das ist unsere Hauptsorge – wir sollen dafür sorgen, dass die jüdische Welt auch weiterhin blüht. Dazu sollte nicht nur die Diaspora selbst schauen, die ja schon ihr Bestes tut, sondern wir in Israel müssen dafür tun, was wir können. Unsere Regierung und das Finanzministerium sollten Mittel für die Bedürfnisse der Diaspora zur Verfügung stellen.


Der zahlenmässige Weiterbestand der jüdischen Gemeinden hängt aber auch von der Definition ab, wer jüdisch ist und wer nicht. Was ist für Ihre Arbeit letztlich die Arbeits-definition von «wer ist jüdisch»?

Die Frage, wer jüdisch ist, kann ich nicht angehen, auch wenn ich dazu eine persönliche Meinung habe. Wir akzeptieren als Regierung die traditionelle, rabbinisch-halachische Definition: Jude ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde. Diese Gruppe wird eher kleiner, während die andere Gruppe mit einem jüdischen Eltern- oder anderen Familienteil, welche durch das Recht auf Rückkehr zur Alija berechtigt ist, am Wachsen ist. Die Frage ist, wie wir diese zweite Gruppe zum Judaismus bringen und darin halten können, auch wenn die Partnerin oder der Partner nicht jüdisch ist. Dies ist wesentlich, wenn wie zum Beispiel in den USA sieben von zehn Ehen interreligiös geschlossen werden. Wobei solche gemischt-religiösen Paare natürlich Alija machen können.


Sie vollziehen ja ein Paradox als Diaspora-minister: Möchten Sie letztlich Menschen motivieren, nach Israel zu kommen, oder ist das Ziel, dass sie in der Diaspora gut leben können?

Natürlich möchte ich sie auch motivieren, nach Israel zu kommen. Aber das ist ja nicht mein Job, dafür haben wir ein Alija-Ministerium, mit dem ich im Übrigen gut zusammenarbeite. Mein Ziel ist es vielmehr, dass diejenigen, welche in der Diaspora leben, ein gutes Leben nach jüdischen Grundsätzen und mit jüdischen Traditionen führen können, Mitglied einer Gemeinde und nicht Antisemitismus ausgesetzt sind. Wenn sie Antisemitismus erleben und sich selbst nicht wehren können, bin ich auch dafür da, zu helfen, mit der Regierung zu sprechen und Sicherheit für sie sowie die nötigen Mittel dafür einzufordern. Aber ich möchte auch, dass sie mit Israel so weit in Verbindung sind, dass sie ein gewisses Wissen über das Land haben und für Israel einstehen können. Denn sie sind nicht alleine – es gibt ja diesen Staat namens Israel, der für Juden einsteht, wann immer und wo immer sie das brauchen. Das ist nun ja auch im Nationalstaatsgesetz festgeschrieben, das ausdrücklich die Verantwortung Israels gegenüber den Diaspora-Juden aufführt.


Ist es nicht problematisch, wenn der israelische Diasporaminister beispielsweise französische Juden in Frankreich, dessen Staatsbürger sie ja sind, verteidigen will?

Natürlich erwarte ich, dass jeder Staat selbst sein Bestes tut. Aber wenn er versagt oder wir glauben, dass er nicht genug tut, erheben wir unsere Stimme. Ich würde dann etwa einen Brief an den Premierminister oder den Präsidenten schreiben und im Namen der israelischen Regierung fordern, dass jüdisches Leben mit allen Facetten möglich sein muss, einschliesslich Koscher-Lebensmitteln, Schechita usw.

Die Diaspora in arabischen Ländern ging ja praktisch verloren durch Auswanderung und Vertreibung. Nun haben sich die Beziehungen zu diesen Staaten teils positiv verändert. Möchten Sie jüdische Gemeinden etwa in Marokko oder Tunesien wieder aufbauen?

Nein, ich würde Juden nicht empfehlen, nach Algerien, Marokko oder Tunesien zurückzukehren, wobei ich ihnen natürlich keine Vorschriften machen will. Die in Israel Lebenden aus diesen Ländern beabsichtigen aber soweit ersichtlich auch nicht, zurückzukehren. Sie gehen die Länder, ihre Wurzeln, besuchen und geniessen deren jüdische Kultur, soweit noch vorhanden. Aber ich möchte ja grundsätzlich, dass jene, die in Israel leben, auch dort bleiben, ungeachtet ihrer Herkunftsländer.


Nun gibt es ja seit einiger Zeit auch eine «neue» Diaspora, nämlich Israeli, die ausserhalb Israels leben – manchmal für immer. Wie gehen Sie damit um?

Ungefähr eine Million Israeli leben aktuell ausserhalb des Landes. Das ist ein grosser Verlust, und wir versuchen, sie zu überzeugen, in Israel zu bleiben. Das ist aber nicht einfach zu bewerkstelligen, wir leben in einer freien Welt. Und in dieser können auch ausländische Unternehmen israelische Gesellschaften kaufen und dann den israelischen Fachleuten viel Geld dafür bieten, dass sie im Ausland weiter für sie arbeiten, etwa in Palo Alto oder Japan. Wenn die Angestellten dazu bereit sind, dann tun sie das eben, das ist Teil des Spiels. Aber glücklich darüber bin ich natürlich nicht – eher darüber, wenn sie nach ein paar Jahren wieder zurückkehren.


Was bedeutet es für Sie als Diasporaminister, dass Israel zumindest symbolisch in der Diaspora gegründet wurde?

Wesentlich ist, dass die Diaspora den Staat gegründet hat und nicht der Staat die Diaspora! Das macht den Unterschied beispielsweise zur italienischen Diaspora aus. Für mich bedeutet es, dass wir die Diaspora gesund und munter halten und ihr dafür in jeder Hinsicht helfen müssen. Und das können wir durchaus tun.


Sie haben doch sicher einen Zehn-Punkte-Plan. Können Sie mir drei davon nennen?

Habe ich gesagt, dass ich einen Zehn-Punkte-Plan für die Diaspora hätte? Einen solchen gibt es für die Pensionäre in Israel, aber er ist noch nicht umgesetzt. Für die Diaspora haben wir aber beispielsweise Joint Ventures mit amerikanischen und europäischen philan-thropischen Institutionen, wonach wir gemeinsam die jüdische Erziehung in der Diaspora fördern wollen. Und an ungefähr 500 amerikanischen Universitäten bieten wir jüdischen Studierenden gewisse Programme über Judaismus und Israel an. Ferner haben wir eine Organisation namens Unite, die sich mit formeller Erziehung ausserhalb Israels beschäftigt und an Hunderten Grundschulen in den USA tätig ist. Dann gibt es Programmserien in Frankreich, online und in Präsenz; es gibt dort auch Pläne, Antisemitismus online zu überwachen und den Gemeinden in Sicherheitsfragen zu helfen, die noch implementiert werden müssen. Wir behalten unsere Zielgruppen immer im Auge und fragen uns, wie wir ihnen am besten helfen können.


Sie und auch Präsident Herzog vertreten die Idee eines liberalen Staates Israel. Wenn sich bei den bevorstehenden vorgezogenen Neuwahlen im November die Richtung nach möglicherweise extrem rechts ändern sollte, was wird dann geschehen?

Persönlich werde ich unter allen Umständen in Israel bleiben. Und für die liberalen Werte weiterkämpfen, für Israel als den jüdischen demokratischen Staat. Wenn es das nicht mehr ist, ist es zwar nicht mehr das Israel, das ich liebe und in dem ich leben möchte. Aber das wäre umso mehr ein Grund, bis zu meinem letzten Tag auf dieser Welt dafür zu kämpfen, dass meine acht Grosskinder in einem jüdischen demokratischen Staat werden leben können. Und das bedeutet die Trennung zwischen uns und den Palästinensern. Aber mich bekümmert auch die Richtung, in die sich die öffentliche Meinung im Land entwickelt, und ich versuche den Israeli zu vermitteln, dass die Zeichen auf Sturm stehen. Denn der rechte Flügel und auch der Likud beabsichtigen, wesentliche Änderungen im politischen System einzuführen. Einige sollen Netanyahu helfen, aber andere richten sich gegen die Struktur der israelischen Demokratie. Auch dagegen will ich nach Kräften ankämpfen.

Foto:
Israels Diasporaminister Nachman Shai
©tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 9. September 2022