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DAS JÜDISCHE LOGBUCH   Anfang Dezember

Yves Kugelmann

Rabat (Weltexpresso) -  An den Hauptstraßen wehen Marokkos rote Flaggen mit grünem Stern. Denn König Mohammed VI. weilt zurzeit in der Hauptstadt. In der Küstenstadt zwischen Tanger und Casablanca ist viel Betrieb auf den Straßen. Die Cafés machen sich bereit für das Fußballspiel Marokko gegen Spanien. Wie überall im Land ist das jüdische Erbe mit Synagogen, jüdischen Gemeinden, Museen und Friedhöfen präsent; rund 400 000 Jüdinnen und Juden lebten im Land. 1807 erhielten die Juden von Rabat neben der Medina ihr eigenes Viertel, die Melah, zugewiesen.

Marokko war im Zweiten Weltkrieg als französisches Protektorat dem Vichy-Regime unterstellt. Der Sultan und spätere König Mohammed V., der Vater von Hassan II., widersetzte sich der Judenverfolgung. Die Gründung Israels führte zu antisemitischer Gewalt und zu Auswanderungsbewegungen. Im Juni 1948 kam es etwa in den Städten Udschda und Dscherada zu Aufständen, bei denen 43 Juden umkamen. Auch die Zusicherung von Gleichberechtigung im seit 1957 unabhängigen Marokko verhinderte den fortschreitenden Exodus nicht, hinzu kam die Armut.

Ab 1959 galt der Zionismus als Verbrechen, die Auswanderung nach Israel wurde verboten – auch weil der König die Beziehungen zu Syrien und Ägypten fördern wollte. Das alles änderte sich. Marokko wird zum bedeutenden Vermittler für Frieden in Nahost und Alliierten Israels. Das Land wird der erste arabische Staat, der den ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat nach seiner Knesset-Rede 1977 unterstützte. Der Vater des jetzigen Königs Hassan II. spielt schliesslich eine wichtige Vermittlerrolle beim Frieden zwischen Ägypten und Israel 1979. Es folgen viele Geheimtreffen, Konferenzen und ein beispielloser Weg der Versöhnung.

Marokkos Juden bilden die grösste Einwanderungsgesellschaft sefardischer Juden in Israel. Mit heute 750 000 Juden machen sie rund 60 Prozent der sefardischen Juden aus. Der einstige Likud-Minister David Levy stammt aus Rabat. Unweit des Palastes finden Gespräche zu jüdischen Kulturprojekten in Marokko statt. Jährlich besuchen Zehntausende von Juden und rund 40 000 Israeli das Land. In einem holzgetäferten Zimmer wird Tee serviert. Es herrscht ein mildes Klima, der Garten blüht immer noch, von draussen sind Vögel und das Rauschen des Windes zu hören. Die Kultur der Gastfreundschaft wird mit den Gesprächen über die Situation von Marokkos Juden in Israel konfrontiert. Sie konnten nie so richtig Fuss fassen im Konflikt zwischen Mizrachi und aschkenasischen Juden. Neben dem Phantomschmerz vieler arabischer Juden, verursacht von der Sehnsucht nach der alten Heimat nach der teilweise erzwungenen oder auch gewollten Auswanderung, bleibt die wirtschaftliche und gesellschaftliche Kluft in Israel auch an diesem Tag Hauptthema.

Ob Israel das Problem jemals angehen und lösen wird, bleibt offen und Thema für lange weitere Vertiefungen. Vor wenigen Monaten hat der amtierende König das Judentum als Teil von Marokkos Nationalkultur anerkannt. Es ist der letzte Meilenstein in der Annäherung und Aufarbeitung der Geschichte. Im Januar 2020 wurde in der Küstenstadt Essoauira ein neues jüdisches Zentrum eingerichtet, der atlantischen Küstenstadt, in der einst mehr Juden als Muslime lebten. Heute leben in Marokko noch rund 3000 Juden. Die meisten Passagiere auf dem Flug zurück nach Paris stammen aus Marokko, nicht wenige jüdische aus Frankreich, einige sind auf dem Weg zurück nach Israel. Die erste Meldung des Piloten, dass das Achtelfinalspiel Marokko-Spanien in die Verlängerung geht, sorgt für Freudenstürme. Viele springen auf, jubeln, stehen angespannt im Gang, springen bei jeder Meldung hoch – man weiss nicht, ob der Flieger wegen der Turbulenzen über dem bewölkten Flug oder der tanzenden Fans wackelt, darunter die marokkanischen Juden. Laufend kommen Meldungen aus dem Cockpit und schliesslich das Wunder von Katar: Marokko besiegt den Nachbarn Spanien im Penaltyschiessen. Der junge französische Jude, der lange in Frankreich und nun in Israel lebt, ist kaum zu bremsen: «Wir haben gewonnen!».

Foto:
Marokkanische Juden
©DW


Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 9. Dezember 2022
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.