Deutschlandfunkkultur.deZu den Hintergründen des Überfalls auf die Ukraine

 

Conrad Taler

 

Bremen (Weltexpresso) - Unter der Überschrift „Wir sind alle schuldig“ veröffentlichte die „Süddeutsche Zeitung“ in der Wochenendausgabe vom 4./5. Februar ein  Gespräch, das der russische Journalist Andrej Archangelski Ende Januar mit dem russischen Bestseller-Autor Wladimir Sorokin bei Radio Free Europe/Radio Liberty geführt hat.


Das Gespräch der beiden im Exil lebenden Russen kreist um die Frage, ob alle Russen für den Krieg gegen die Ukraine eine kollektive oder individuelle Verantwortung tragen. In einer redaktionellen Vorbemerkung schreibt die SZ, Sorokin habe stets betont, dass politische Herrschaft in Russland seit der Regentschaft Iwans des Schrecklichen vor 500 Jahren im Grunde stets auf dieselbe Weise ausgeübt worden sei: mit roher Gewalt. Auch der Zusammenbruch der Sowjetunion habe an diesem Prinzip nichts geändert. Der „tote Körper des Sowjetischen“, so Sorokin, sei in den Neunzigerjahren nicht begraben worden und modere seither in einer Ecke vor sich hin. Jetzt habe er sich erhoben und drohe der ganzen Welt mit Vernichtung.

 

Auf die Frage, warum sich Menschen zu einem „Massenselbstmord“ bereit erklären, antwortet Sorokin mit der Gegenfrage: „Was war denn das sowjetische Projekt? Ein Verbrechen nicht mal so sehr gegen die Menschlichkeit, sondern gegen den Menschen als Gattung. Es war der Versuch, den sowjetischen Menschen jeglicher Wahl zu berauben. Innere Freiheit besteht aber darin, wählen zu können. Der sowjetische Mensch konnte sich noch nicht einmal für eine Lieblingszigarette entscheiden.“

 

„Wir, als Russen, trinken alle einen bitteren Kelch“, fährt Sorokin fort. „Ein jeder hat seine Last zu tragen. Wie schwer sie ist und welches Ausmaß sie hat – das bestimmt jeder selbst. Aber wir sind alle schuldig. Nicht nur Putin und seine Mannschaft. Das Problem ist ja, dass das Regime sich wie in Stalins Zeiten deshalb halten konnte, weil es von solchen wie Stalin und Putin Millionen gibt. Mit dem gleichen Bewusstsein, der gleichen Ethik und Lexik.“

 

Alle sowjetischen kollektiven Traumata seien ins Unterbewusstsein verdrängt und nicht bearbeitet worden. Es habe keinen Bewusstwerdungsprozess gegeben, keine Buße für die Verbrechen des Bolschewismus. Mit Blick auf den toten sowjetischen Körper sei abgewinkt und erklärt worden, wir seien gesund. „Doch wie sich herausgestellt hat“, fährt Sorokin fort, „sind wir krank, schwer krank. Das Böse, das in den Menschen schlummerte, ist mit Hilfe der Propaganda freigesetzt worden. Butscha ist das Böse in Reinform, das sich aus den Tiefen des kollektiven Unbewussten erhoben hat. Wir ernten die Früchte einer nicht behandelten Krankheit. Ein absurder, entsetzlicher, sinnloser Krieg.“ 

 

Gegen Ende des Gespräch zitiert  Archangelski den ukrainischen Präsidenten Selenskij, der an das Gewissen der denkenden russischen Bevölkerung appelliert und ihr vorgehalten habe, dass ihr Schweigen das Böse ermögliche. Ob diese Gleichgültigkeit auch unter denen herrsche, die Russland verlassen haben, möchte er wissen. „Diese ewige Infantilität, auch die der russischen Intelligenz, fing nicht erst jetzt an“, gibt Sorokin zur Antwort. Es handle sich um den Unwillen, ein Problem zu sehen und Verantwortung zu übernehmen.

 

„Ich glaube, dass es eben deshalb in Russland auch in den 1990er Jahren nicht gelungen ist, etwas zu verändern, und auch nicht in den 2000ern nicht mit den Protesten.“  Damals sei die ganze Zeit über gerufen worden, nur ohne Gewalt, nur ohne Blutvergießen. „Das Ergebnis ist totale Gewalt und schreckliches Blutvergießen“.

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