Bildschirmfoto 2023 04 03 um 00.19.59Der Präsident des European Jewish Congress, Ariel Muzicant, über die Herausforderungen der jüdischen Diaspora und Israel sowie seine letzte Amtszeit

Yves Kugelmann

Wien (Weltexpresso) - tachles: Sie wurden im Februar als Präsident des European Jewish Congress (EJC) bis Ende 2024 bestätigt. Welche Prioritäten setzen Sie?


Ariel Muzicant: Ich muss halt improvisieren und die Zeit einteilen, aber mit 71 ist man auch müder, hat nicht mehr die Leistungsfähigkeit wie mit 45.

Pandemie, Ukraine, Wirtschafts- und politische Krisen in Europa – wie ist da die Agenda des Präsidenten?
Seit 2012 ist in Sachen Sicherheit der jüdischen Gemeinden ja einiges vorwärtsgegangen. Jetzt habe ich zwei neue Prioritäten: die Auseinandersetzung mit der Assimilation und die jüdische Identitätsstiftung. Das ist ein sehr breites Spektrum zwischen Bekämpfung der Assimilation und der Frage nach der Lösung bezüglich der gemischten Ehen und ihrer Kinder. Wie finden wir Wege, um Juden dem Judentum zu erhalten oder zu ihm zurückzubringen?

Haben Sie dazu schon konkrete Ideen?
Ja, verschiedene, aber ich will diese zuerst mit den Verantwortlichen diskutieren. Europa besteht aus 42 Ländern mit eigenen Gemeinden, und jeder definiert seine Probleme und Bedürfnisse anders. Wir brauchen massgeschneiderte Lösungen für jeden: Was in Schweden wunderbar funktioniert, ist für Frankreich untauglich und so weiter. Wir müssen uns also überlegen, wie wir etwas tun können, um den verschiedenen Gemeinden zu helfen, die Assimilation zurückzudrängen. Das können zum Beispiel für das eine Land Stipendien sein, Lehrer für ein anderes und Ausbildungskurse für Lehrer für ein drittes.

Was werden Sie zum Thema «Vaterjuden» tun?
Ein Thema, das mich sehr beschäftigt! Man darf nicht vom hohen Ross aus sagen, man sei «halachisch jüdisch» und das Problem interessiere einen nicht. Man muss dazu kreative Lösungen suchen. Ich habe die zwar auch nicht parat, aber mit der Verantwortung als EJC-Präsident sage ich, dass das ein brennendes Thema der nächsten Jahrzehnte ist.

Der ehemalige israelische Diaspora-Minister Nachman Shai sagte Ihnen dabei ja Hilfe zu. Ist das mit der jetzigen Regierung noch zu erwarten?
Ich habe am 2. April einen Termin bei Amichai Chikli (derzeitiger Diaspora-Minister, Anm. d. Red.) und werde ganz frontal mit ihm über diese Dinge reden und versuchen, ihn zu überzeugen, dass wir eine Verantwortung haben. Wir brauchen Programme, Konzepte, Ideen, die besten Köpfe, um sicherzustellen, dass die heutigen 15 Millionen Juden in 30 Jahren noch 15 Millionen Juden sind.

Haben wir diese Köpfe nicht auch in Europa?
Wir sind 2 Millionen in 42 ganz unterschiedlichen Ländern, und wir sind schwach. Israel hat 9,2 Millionen in einem Land und ist stark. Wir haben 125 Jahre den Staat aufgebaut – jetzt ist es Zeit, einen Paradigmenwechsel herbeizuführen und den Israeli klarzumachen, dass sie für die Diaspora verantwortlich sind.

Ein weiteres für Sie wichtiges Thema ist die Bedrohung der Juden durch den Iran.
Ja, diese Bedrohung sehe ich nach den Anschlägen beispielsweise in Argentinien und Bulgarien als globale. Auch gibt es nun ja Bedrohungen gegenüber Namen etwa von Verbands- und Gemeindepräsidenten und Listen von konkreten Zielen auch in Europa. Es wird ganz bewusst versucht, Druck auszuüben und Angst zu machen.

Was fordern Sie diesbezüglich von den Regierungen in Europa?
Dass sie einerseits ihre Geheim- und sonstigen Dienste dafür sensibilisieren, auf dieses Problem zu reagieren und die Recherchen zu verstärken. Und andererseits Konsequenzen gegen den Iran ergreifen. Wir wissen ja, was in «Mein Kampf» in den 1930er-Jahren angekündigt wurde, und alle haben zugeschaut – auch nachdem er an die Macht gekommen war und die Juden umbrachte. Auch beim Iran schauen wieder alle zu, wie aufgerüstet wird, und verlassen sich auf irgendein Abkommen.

Was muss ganz konkret jetzt getan werden?
Die Regierungen müssen aufhören, so zu tun, als ob es nur den Joint Comprehensive Plan of Action gegen Iran gäbe. Was unternehmen Josep Borrell (hoher Vertreter der EU für Aussen- und Sicherheitspolitik, Anm. d. Red.) und die einzelnen Regierungen und Premierminister gegen die Drohungen gegen Israel und die Juden? Wie lange werden sie einfach wegschauen?

Nur haben die Sanktionen ja nichts genützt.
Das ist so nicht richtig. Sie wurden ausgesetzt, als sie wirklich wirksam wurden, weil man vorzog, den «Joint Comprehensive Plan of Action» zu machen – man hat den Iran aus dem Druckkessel wieder herausgelassen und den Mullahs die Möglichkeit gegeben, die Expansion des Terrors weiterzuverfolgen. Irgendwann wird es jetzt auf der Kippe stehen, ob man etwas tut, die Sanktionen erhöht, das Regime unter Druck setzt, es zwingt, seine Haltung der Aggression und des Antisemitismus und Antiisraelismus zu ändern, oder nicht.

Weshalb läuten bei der EU nicht die Alarmglocken?
Ich habe schon von Angela Merkel damals die Antwort bekommen, es sei wichtiger zu versuchen, die andere Seite mit friedlichen Methoden zu überzeugen. So, wie man es mit Russland auch schon getan hat …

Was wäre konkret die Alternative?
Die Sanktionen so dramatisch anzuziehen, dass sich das Regime in Teheran eingestehen muss, dass es mit seiner Strategie nicht durchkommt. Derzeit geht es der Wirtschaft im Iran so schlecht, dass man dachte, dem Westen ein Besänftigungspflaster geben zu müssen – Rafael Grossi von der Internationalen Atomenergie-Organisation durfte seine Kameras wieder anstellen. Aber die Filme gibt man nicht heraus, und man erklärt nicht, was man beim Hinschauen sieht. Typisch iranische Politik!

Wenn Israel den Iran angreifen würde, würde dies das Gefährdungspotenzial für die europäischen Gemeinden verstärken?
Ich glaube, dass in so einem Fall die europäischen, aber auch die amerikanischen jüdischen Gemeinden der sogenannte «soft belly» wären, also der eher unverteidigte Raum der jüdischen Welt. Wir sind schwerer zu schützen als die Israeli. Daher müssen wir an die Regierungen der Länder, in denen wir leben, appellieren, dass es letztlich ihre Verantwortung ist, uns zu schützen.

In einem früheren Gespräch erwähnten Sie, dass die jüdische Führungsebene zu alt sei. Ist das noch immer so?
Ich bin ja das beste Beispiel dafür. Aufgrund meines Alters habe ich an dieser Position eigentlich nichts verloren. Ich bin überzeugt, dass es im EJC und World Jewish Congress (WJC) dringend eine Verjüngung geben muss und mehr Frauen in die jüdische Politik gehören. Es fehlt an Jungen und an Frauen, und vor allem komplett an der Verantwortlichkeit und Verpflichtung, nach einer gewissen Amtszeit seine Nachfolge zu organisieren.

Weshalb ist es so schwierig, Junge dafür zu interessieren?
Zum einen kostet es sehr viel eigenes Geld und Zeit, ist mit sehr viel Streit und wenig Ehre verbunden, es ist mühsam und frustrierend. Und zum anderen ist es nicht sicher, ob man das, was man sich vorgenommen hat, auch umsetzen kann. Aber das ist in der politischen Arbeit und vor allem der jüdischen eben so. Nicht jedermanns Sache.

Müsste diese Verjüngung also ein dritter Punkt auf Ihrer Agenda sein?
Der WJC hat zwar eine Organisation für die Förderung der Jungen eingesetzt – aber nicht für die eigene Nachfolge. Das Problem ist, offen zu sagen, dass die Organisationen von Jüngeren geführt werden müssten und man auch bereit ist, andere aufzubauen und zurückzutreten. In der Wiener Gemeinde habe ich das ja vorgemacht.

Wie müsste man das beim EJC und WJC an‑packen?
In erster Linie braucht es eine funktionierende Fundraising-Abteilung, die ich für den EJC derzeit aufbaue, damit er mittelfristig nicht mehr ausschliesslich vom Geld, das der Präsident investiert, abhängig ist. Es muss möglich werden, dass auch normale Menschen ohne grosses Vermögen für diese Positionen überhaupt kandidieren.

Und parallel bauen Sie Ihre eigene Nachfolge auf?
Ja, aber das habe ich ja nicht erfunden. Schon Michel Friedman und Pierre Besnainou haben ja versucht, eine Struktur zu schaffen, dass sich der EJC finanziell grundsätzlich selbst trägt, so dass man ein Minimumprogramm laufen lassen kann. Zuvor war der EJC vom Geld abhängig, das der WJC nach Europa schickte, und somit ein Anhängsel. Unter Friedman und Moshe Cantor wurde er – mit eigener Agenda – unabhängig, womit aber der WJC seine Spielwiese in Europa verlor. Das ist letztlich das Problem, das wir miteinander haben.

Sprechen EJC und WJC trotzdem noch miteinander?
Man spricht miteinander und hat verschiedene Meinungen. Aber man sieht in mir und den anderen jüdischen Politikern eher Konkurrenten statt Partner. Man nimmt uns wohl ernst, zu ernst vielleicht, aber man kooperiert nicht, weil man uns als Konkurrenz fürchtet.

Haben Sie dafür ein Beispiel?
Wir haben eine Sicherheitsabteilung gegründet. Dann hat der WJC auch eine auf die Beine gestellt und gewisse Länder übernommen, aber die Abteilung hat nicht funktioniert. Also hat man sie wieder zugemacht, und die übernommenen Länder blieben auf der Strecke, bis wir sie wieder aufnahmen.

Was schliessen Sie für sich daraus?
Dass ich hier meinen Job für meine Leute mache und so weit ich kann, ignoriere, was jenseits des grossen Teichs passiert. Umgekehrt läuft es allerdings anders: Drei europäische Gemeinden beklagen sich schwer darüber, dass der WJC dort Büros aufmacht. Man muss sich schon fragen, wie es kommt, dass drei Büros aufgemacht werden, wenn wir 500 000 Euro für die Einrichtung technischer Sicherheitsinstallationen bei Gemeinden, die sich das nicht leisten können, vom WJC nicht erhalten konnten …

Ärgern sie sich darüber?
Könnte ich schon, aber was soll’s. Ich kann diese Dinge nicht ändern und werde auch nicht mit erhobenem Zeigefinger durch die Welt gehen und anderen sagen, was sie tun und lassen sollen. Ich bin verantwortlich für mich, meine Organisation und meine Leute und tue mein Bestes.

Gibt es aber nebst all den Problemen auch Positives zu berichten?
Ja, so etwa bezüglich Antisemitismus eine enorme Bewusstseinsveränderung in den europäischen Eliten; es gibt überall Aktionsprogramme. Zum Beispiel auch im österreichischen Bundesheer, das noch in den 1960er-, 1970er-Jahren ein Sammelbecken der Nazis war und heute einen Antisemitismusbeauftragten hat. Oder dass jedes Land in Europa die IHRA-Definition übernommen hat, woran wir zu Beginn nicht glaubten. Und es funktioniert, die Botschaft bis runter in die Schulen zu bringen. Zudem gibt es Unmengen an jüdischen Veranstaltungen, Partys usw. – das jüdische Leben blüht in vielen Gemeinden wieder auf, wo man alles kaputt und ausgestorben glaubte. Im kulturellen, religiösen und allgemeinen Bereich gibt es grosse Fortschritte. Aber es gibt immer noch viel zu tun, und es ist nicht in allen Ländern gleich.

Es gibt nun die Sorge um Israel. Wie formulieren Sie diese im Gespräch mit Regierungsvertretern in Israel?
Als Staatsbürger europäischer Länder haben wir natürlich nicht das Recht, einem israelischen Staatsbürger in seine Entscheidungen hineinzureden. Aber als Juden haben wir gewisse Gemeinsamkeiten, die uns betreffen. Beispielsweise Jerusalem, von dem ich glaube, dass es die spirituelle Heimat aller Juden ist. Dann ist der Kotel ein nationales Monument der Juden und nicht nur einer bestimmten religiösen Gruppierung. Daher muss man darauf drängen, dass der ursprünglich vorgesehene Kompromiss mit verschiedenen Bereichen des Kotel für verschiedene Denominationen von Juden respektiert wird. Wenn das nicht geschieht, ist das ein Thema, das uns Juden alle angeht. Oder wenn das Rückkehrrecht etwa für jemanden, der einen jüdischen Grossvater hat, geändert werden soll, dann betrifft uns das auch, und wir wollen mitreden.

Ist denn die israelische Sorge um eine Einschränkung der liberalen Demokratie in Israel auch eine jüdische?
In jedem Fall lehne ich es ab, solche Sorgen den Israeli via ausländische Medien mitzuteilen. Das muss man vor Ort tun, und dann ist die Frage, wie weit man das Recht hat, mitzureden. Grundsätzlich ist es eine Entscheidung der Israeli, ob die Justizreform oder die Einführung der Todesstrafe kommen sollen oder nicht. Persönlich mag mich das stören, aber es ist nicht rechtens, diese Dinge im Ausland in den Medien zu verurteilen oder zu verteidigen.

Wir erleben gerade dramatische Tage in Israel. Das Land steht vor wichtigen Weichenstellungen. Wie schätzen Sie das ein?
Die Verbissenheit beider Seiten, Regierung und Opposition, ist unverständlich. Kommt kein Kompromiss zustande, ist jede Reform nicht nachhaltig und wird bei erster Gelegenheit von der anderen Seite aufgehoben. Die jetzige Auseinandersetzung zerstört Israel und das jüdische Volk. Hoffentlich gelingt es Präsident Herzog, einen Kompromiss zu erzwingen.

Sie sind in Israel geboren und israelisch-österreichischer Doppelbürger. Wir stehen vor dem 75. Jubiläum Israels. Was wünschen Sie sich zu Jom Haazmaut?
Ich werde die nächsten vier Wochen in Israel verbringen und mitfeiern. Und das Feiern werde ich mir nicht durch all die Probleme, die wir haben, vermiesen lassen.

Sind Sie zuversichtlich, dass alles gut kommen wird?
Ich hoffe es, und ich glaube, dass wir uns bewusst sein müssen, dass es in der Geschichte der Juden eigentlich nie sehr lange Perioden mit einem unabhängigen Staat gegeben hat, der unser Staat war. 75 Jahre ist eigentlich schon eine ganz schöne Zeit, und ich hoffe, dass das etwas ist, das man schätzen und feiern, aber auch verteidigen muss.


Foto:
Ariel Muzicant sieht in der Assimiliation von Europas Juden eine Gefahr
©tachles

Info:
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 31. März 2023