Fluch und Segen einer menschlichen Entdeckung
Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) – Mit der Entdeckung der Sprengkraft des Atoms hat sich die Menschheit ein Geschenk gemacht, das sie alltäglich vor die Entscheidung zwischen Leben und Tod stellt. Mir geht es dabei weniger um die Janusköpfigkeit der friedlichen Nutzung der Kernenergie, sondern um die Verlockung der Sprengkraft als Herrschaftsinstrument.
Seit uns die über Hiroshima abgeworfene Atombombe vor Augen geführt hat, welches Inferno eine vergleichsweise kleine atomare Ladung heraufzubeschwören vermag, sollten wir ihre Nutzung als militärisches Machtmittel nur mit der größten überhaupt denkbaren Vorsicht in unser Denkvermögen einbeziehen. Nicht von ungefähr diagnostizierte die Washington Post den Krieg in der Ukraine bereits nach drei Tagen als „nuclear crisis“.
Die Süddeutsche Zeitung vom 8. August 2022 erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass das komplexe Thema der nuklearen Abschreckung nach dem Zweiten Weltkrieg verschiedene Phasen durchlaufen habe. Im Dezember 1960 habe der amerikanische Präsident Eisenhower nicht weniger als 3.729 Ziele innerhalb und außerhalb der damaligen Sowjetunion als zu zerstörende Ziele genannt und dabei mit etwa 220 Millionen Toten gerechnet.
Angesichts der offensichtlichen Hybris solcher militärischen Überlegungen hätten sie schnell an Plausibilität verloren. Allgemein akzeptiert beziehungsweise demokratisch vermittelbar oder mehrheitsfähig seien sie außerhalb der USA nie gewesen. Selbst unter Präsident Obama hätten die USA jedoch nicht auf die Option eines Ersteinsatzes von Nuklearwaffen verzichtet. Die Zeitung bezieht sich dabei auf das Buch „Welt im Alarmzustand“ des Politikwissenschaftlers Peter Rudolf.
Seit der russische Präsident Putin von der Verlegung taktischer Atomwaffen in das benachbarte ehemalige Weißrussland gesprochen hat, droht der Ukraine möglicherweise von Norden her eine neue Gefahr. Dabei muss man wissen, dass taktische Atomwaffen gemessen an der Hiroshima-Bombe über das Mehrfache an Sprengkraft verfügen. Ihr wurde eine Sprengkraft von 16 Kilotonnen, also von 16.000 Tonnen des herkömmlichen Sprengstoffs TNT nachgesagt. Die heutigen taktischen Atomwaffen besitzen eine Sprengkraft von bis zu 50 Kilotonnen, ihre Wirkung während eines Gefechtes auf dem Schlachtfeld wäre also verheerend, von der unkontrollierbaren radioaktiven Verseuchung weiter Gebiete ganz abgesehen.
Im Jahr 1985 trafen sich in Genf der damalige sowjetische Staatschef Gorbatschow und der US-Präsident Reagan. Am Ende der Begegnung veröffentlichten die beiden Staatschefs eine als historisch zu bezeichnende Erklärung. Sie lautete: „Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen werden und darf nie geführt werden.“ Eine gleich lautende Erklärung veröffentlichten am 3. Januar 2022 die fünf ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrates der Vereinten Nationen USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien.
Im Raume steht aber auch der Satz Putins vom 21. September 2022: „In Falle einer Bedrohung der territorialen Integrität unseres Landes und zur Verteidigung Russlands und unseres Volkes werden wir mit Sicherheit von allen uns zur Verfügung stehenden Waffen Gebrauch machen.“ Dass die Washington Post drei Tage nach dem Überfall auf die Ukraine von einer nuklearen Krise sprach, hatte also seinen Grund
Foto:
©Quarks