Bildschirmfoto 2023 04 10 um 00.25.12Erstmals wieder Raketen am Golan, zuvor massenweise Raketen aus Gaza und Libanon, sowie Mörsergeschosse gegen Israel. Im Jordantal: zwei ermordete Schwestern, in Tel Aviv ein getöteter italienischer Tourist und Verletzte

Jacques Ungar

Tel Aviv (Weltexpresso) - Wollen die in Syrien ansässigen Terroristen eine neue Front gegen Israel eröffnen? Die Nacht vom Samstag auf den Sonntag scheint diesen Ausdruck vermitteln zu wollen: Zuerst gegen etwa 22 Uhr Ortszeit gingen drei Raketen nieder, von denen eine im offenen Gelände auf dem südlichen Golan landete. Die anderen beiden fielen noch auf syrisches Territorium und in Jordanien auf Grund. Die israelische Raketenabwehr griff nicht ein. Bei der zweiten Welle von drei weiteren Raketen gegen 3 Uhr früh am Sonntagmorgen musste das «Iron Dome»-System einmal in Aktion treten, um eine gegen den israelischen Golan gerichtete Rakete zunichte zu machen.

Welche Terroreinheitenverantwortlich zeichneten für die syrischen Raketenfeuer, war zunächst nicht gemau bekannt. Allerdings gab die Terrorkompanie «el Quds» einen Fingezeig, als sie die sechs Raketen auf dem Golan als Reaktion auf Israels Verhalten an der Jerusalemer el-Aqsa-Moschee bezeichnete. Es würde nicht sehr überraschen, sollte auch das Regime in Damaskus zumindest indirekt die Finger in dieser Eskalation hat. Ein Aspekt der Eskalation dürfte sicher der Umstand sein, dass Israel ab jetzt das Engagement seiner Luftwaffe gegen Ziele in Syrien nicht mehr dementieren kann oder muss. So griffen israelische Flugzeuge am Sonntagmorgen Ziele der Terroristen in Syrien an, nachdem schon zuvor unbemannte Flugkörper Abschussrampen der syrischen Raketen attackiert hatten. Das könnte zunächst verbale Reaktionen seitens der russischen Schutzmacht Assads zur Folge haben. - Ist das Ausweiten des Geschehens am Golan zu einer echten regionalen Eskalation noch vermeidbar?

Erinnerungen an das Jahr 2006 wurden in Israel wach, als der Libanonkrieg ausbrach. Die 34 Raketen, die am 1. Pessachtag von den Hamas-Terroristen aus Libanon gegen Israel abgefeuert wurden, erinnerten gefährlch an jene Zeiten. Daran ändert auch die Tatsache wenig, dass 25 der Geschosse entweder im offenen Gelände niedergingen oder jenseits der libanesischen Grenze. Nur rund fünf Raketen mussten vom «Iron Dome»-System abgefangen werden. Insgesamt wurde in den letzten Tagen an Israels Nord- und Südgrenze total über 60 Raketen der Feinde gezählt. Auch Raketen gegen Aschkelon sollten wohl als Warnzeichen dafür dienen, wozu Israels Feinde fähig wären, wenn man sie dazu «zwingen» sollte. Der vorläufige Höhepunkt des Terrors spielte sich am Freitagnachmittag aber im Jordantal ab: Zwei Schwestern (16 und 20) aus der Siedlung Efrat, die sich mit ihrer Mutter (48, wurde lebensgefährlich verletzt) auf einem Ausflug befanden, wurden aus einem vorbeifahrenden Wagen hinaus erschossen. Der in einem anderen Auto vornwegfahrende Vater musste tatenlos das Geschehen mitverfolgen.

Eines war so sicher wie der Sonnenschein am israelischen Heiss-Sommerhimmel: Die israelische Rechtsregierung konnte sich dieses Mal unmöglich auf tatenloses Taktieren beschränken, sondern musste aktiv in die «Tasten» greifen, schon allein, um zu verhindern, dass die Kriegsgurgeln in den eigenen Reihen nicht Sturm zu laufen beginnen würden. Nach Ende des ersten Pessachtags trat am Donnerstagabend bis in alle Nacht hinein denn auch das politische Sicherheitskabinett zum ersten Mal seit über zwei Monaten wieder zusammen. Das Resultat war eindeutig noch bevor die Minister den Verhandlungssaal richtig verlassen hatten: Israels Flugzeuge und andere Teile der Kriegsmaschinerie wie Tanks belegten die Hamas-Zentren im Gazastreifen (Schmuggelntunnels, oder Produktions- und Aufbewahrungsstätten von Raketenbestandteilen und Munition), aber auch zum ersten Mal seit langem wieder in Südlibanon mit schier endlosem Revanchefeuer.

Es grenzt schon an ein oder mehrere Wunder, dass bei diesen und anderen Aktionen auf israelischer Seite (und wahrscheinlich auch bei den Palästinensern und Libanesen) die wenigen Verwundeten nur gerade Bagatellverletzungen erlitten hatten. Tatsache bleibt, dass Israel, das auch Schüsse gegen Städte wie Aschkelon entgegennehmen musste, und dass in den ersten Pessachtagen die Zusammenstösse am Tempelberg zwischen Randalierern und Polizeitruppen gefährliche Ausmasse anzunehmen begannen. Vor diesem Hintergrund liess Premier Netanyahu am Donnestagabend im Sicherheitskabinett die Elite seines Sicherheitspersonals aufnmarschieren: Verteidigungsinister Yoav Gallant (dessen Position immer noch nicht offiziell geklärt war), IDF-Generalstabschef, General-Leutnant Herzi Halevi, Mossad-Chef David Barnea, Ronen Bar, de Chef des Inland-Geheimdienstes Shabak, Polizeichef Robi Bar und zahlreiche andere. Es kam wie zu erwarten war: Einmal mehr scheint Israels Establishment, wie auch die Entscheidungsträger seiner Feinde mit einem blauen Auge davongekommen zu sein.

Es war hüben wie drüben offenbar gelungen, die aufgerüttelten internationalen Organisationen und potentiellen Vermittler davon zu überzeugen, dass es sich bei dem Kräftemessen zwischen Israel und palästinensischen Terroristen um eine breitangelegte Übung gehandelt hat, dass aber keine der beiden Seiten ernsthaft an einer echten Konfrontation interessiert war. Fragich ist allerdings, ob diese Gleichung jetzt, nach der Erhitzung der syrischen Front am Golan och stimmt. Die Frage ist zudem, wie lange es dauert bis die eine oder andere Seite im «unheiligen Eifer» auf den falsche Knopf drückt. Dann wird sich im Nu nämlich ein Höllenfeuer in Israels Norden ausbreiten, das zunächst weder Unifil, Uno, Kairo oder gar Jerusalem werden löschen können – wenn sie das überhaupt tun wollen. Schliesslich sei darauf hingewiesen, dass die Ermordung eines italienischen Touristen wenige Stunden nach seiner Ankunft in Israel an einer Strandpromenade in Tel Aviv wahrscheinlich durch eine Aufprallattacke ums Leben kam. «Wahrscheinlich», weil es sich bei dem (ebenfalls getöteten) Täter um einen Israel-Araber aus Kafr Kassem handelte. Dessen Familie und auch die Ortsgewaltugen schwören Stein und Bein, dass es sich bei dem Zwischenfall um einen Unfall handeln müsse, da der vermeintliche oder wirkliche Terrorist seit Jahren schon in Israel arbeitete. Kafr Kassem ist nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen sehr interessiert am weiteren Bestand der bisher guten Koexistenz mit Israel. Erwähnen wir schliesslich noch, dass trotz der prekären Sicherheitslage am Samstagabend zum 14. aufeinanderfolgenden Male die Demonstrationen gegen die Reformpläne des juristischen Apparates Israels stattfanden. Allerdings waren die Kundgebungen sichtlich schwächer besucht als in den bisherigen Wochen, und die Kooperation zwischen den Demosntranten und den Sicherheitsorganen klappte besser als auch schon. Der letztliche Gang der Dinge am Golan und in der Westbank steht noch offen, sieht man einmal vom Zusammenzug weiterer Reservesoldaten in der Westbank ab.

Ungeachtet dessen haben sich am Samstagabend wieder Zehntausende Israeli zu Protesten gegen die amtierende Regierungskoalition zusammengefunden. Sie starteten mit einer Schweigeminute an die Attentatsopfer der vergangenen Tage.

Foto:
 Die politische Situation ist letzte Woche eskaliert mit Auseinandersetzungen zwischen palästinensischen Aktivisten und der israelischen Polizei auf dem Tempelberg
©tachles


Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 10. April 2023