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Heute vor 60 Jahren wurde die Anklageschrift im Auschwitz-Prozess eingereicht

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) – Als vor dem Schwurgericht beim Landgericht Frankfurt am Main der Prozess gegen 23 ehemalige Angehörige der Waffen-SS und einen Funktionshäftling des Vernichtungslagers Auschwitz begann, war ich 36 Jahre Jahre alt. Ungeachtet der langen Zeit, die seither verstrichen ist, stehen mir die Gesichter der Beteiligten immer noch vor Augen.

 

Ich habe das Verfahren für mehrere Zeitungen vom ersten bis zum letzten Tag  als journalistischer Beobachter begleitet. Ich kannte den Initiator des Prozesses, den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer,schon vorher. Er hat mir wenige Monate nach Prozessbeginn das Manuskript eines Vortrages überlassen, den er im großen Hörsaal der Frankfurter Universität vor 800 Studenten gehalten hat. Der Vortrag mündete in die prophetische Mahnung: „Nichts gehört der Vergangenheit an, alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden.“

 

Wir standen uns politisch nahe, beide gehörten wir zum Personenkreis der entschiedenen Gegner des Naziregimes. Ich erinnere mich noch an sein Streitgespräch mit dem damaligen CDU-Landestagsabgeordneten und späteren Bundeskanzlers Helmut Kohl, der dem früh ergrauten Naziopfer 1962 vorhielt, die Zeit sei viel zu kurz für ein abschließendes Urteil über den Nationalsozialismus.

 

Die Frankfurter Justiz hat sich mit Händen und Füßen dagegen gesträubt, dass das Verfahren gegen Mitschuldige am Massenmord an den Juden nach Fritz Bauers Willen in Frankfurter stattfinden sollte. Sein halb im Scherz geäußerter Satz, „Wenn ich meine Dienstzimmer verlasse, betrete ich feindliches Ausland“, gehört inzwischen weltweit zum Wortschatz mehrere Generationen von Historikern.

 

Die langwierigen Vorarbeiten übertrug Bauer jüngeren Staatsanwälten,, bei denen er sicher sein konnte, dass sie sich nicht als Nazis entpuppten. Im Vorwort zu einem meiner Bücher schrieb der inzwischen verstorbene brandenburgische Generalstaatsanwalt Erardo C. Rautenberg, der große Auschwitz-Prozess sei für die Entwicklung der Bundesrepublik von großer Bedeutung gewesen, weil er den Deutschen vor Augen führte, dass der NS-Staat ein Unrechtsstaat gewesen sei. Nach den Prozessen der Siegermächte habe nun ein deutsches Gericht dokumentiert, welche Schandtaten in deutschem Namen begangen worden seien.

 

Im Widerspruch zur damaligen Rechtssprechung vertrat Fritz Bauer die Ansicht, dass jeder wegen Mittäterschaft zur Rechenschaft gezogen werden müsse, der irgendwie in die Tötungsmaschinerie einbezogen gewesen sei. Jahrzehnte später hat sich eine neue Richtergeneration der Haltung des hessischen Generalstaatsanwalts angeschlossen. In meinen Berichten über das Geschehen im Gerichtsaal erfüllte ich meine Chronistenpflicht nach bestem Wissen und Gewissen. Ein neutraler Beobachter war ich nicht. Wenn mir jemand wegen meiner Parteinahme für die Opfer mangelnde Objektivität vorwirft, dann ehrt mich das.

 

Wer die Schilderungen der Überlebenden von Auschwitz gelesen hat, ist für immer gefeit gegen Parolen aus der rechten Ecke, er bekommt eine Ahnung davon, wohin es führen kann, wenn Menschen, aus welchen Gründen auch immer, ausgegrenzt, in ihren Menschenrechten eingeschränkt, deportiert und ermordet werden.

 

Sechsmal lebenslanges Zuchthaus, elfmal begrenzte Freiheitsstrafen zwischen  dreieinviertel und 14 Jahren und einmal Freispruch. Das ist in dürren Worten die rechtliche Bilanz des Auschwitz-Prozesses, der heute vor 60 Jahren mit der Einreichung der 700 Seiten langen Anklageschrift in seine entscheidende Phase trat. Die politische Bilanz dagegen läßt sich sehen. Noch heute und heute erst richtig, werden der Initiator des Auschwitzprozesses, der Hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer  und der Frankfurter Prozeß als der eigentliche Beginn der gesellschaftlichen Aufarbeitung des verbrecherischen Nazisystems in Westdeutschland gewertet. Deshalb kommt der Anklageschrift von vor 60 Jahren eine so große Bedeutung zu. 

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Fotos:
Kurt Nelhiebel zu Zeit des Auschwitzprozesses und heute
©privat


Info:
Kurt Nelhiebel, Einem Nestbeschmutzer zum Gedenken - Texte zum 50. Todestag von Fritz Bauer, Ossietzky Verlag, 2018