kurtvater

. . . und wie ich das Ende des Zweiten Welkkrieges erlebte

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) – Seit der Krieg vor der europäischen Haustür Millionen Müttern und Vätern den Schlaf raubt, gehen meine Gedanken öfter als sonst zurück in jene Zeit, da auch meine Mutter und mein Vater  in schlaflosen Nächten um das Leben ihres Sohnes bangten, den ein skrupelloses Regime mit siebzehn Jahren von der Schulbank weggeholt und als Soldaten in das Inferno der Kämpfe um Berlin geschickt hatte.

 

Ich gehörte der Nachrichtentruppe an und absolvierte meinen ersten Einsatz zusammen mit gleichaltrigen Gymnasiasten aus Breslau  in Tempelhof. Waffen hatte keiner von uns. Als es hieß, am Rande des Flugfeldes seien sowjetische Panzer aufgetaucht, bauten wir überstürzt unsere Funkstelle ab und irrten fortan zu Fuß mit unseren Gerätschaften durch die Straßen und U-Bahn-Schächte Berlins. 

 

Den Himmel bedeckte ein Schleier aus Rauch und Explosionswolken, so dass ständig ein diffuses Dämmerlicht herrschte. Von irgendwoher war unentwegt das Jaulen sowjetischer Raketenwerfer zu hören Stalin-Orgel nannten die  deutschen Soldaten das gefürchtete Kriegsgerät. Vor einer durch zerstörte Fahrzeuge verstopften Brücke über die Havel wuchs sich das Chaos zu einem allgemeinen Durcheinander aus, in dem jeder froh war, seine Haut in einem überfüllten Luftschutzbunker in Sicherheit bringen zu können. 

 

Als ich in eines Morgens geblendet vom Tagelicht auf dte Straße trat, stand ich unvermittelt einem sowjetischen Soldaten gegenüber. Er sah müde aus und bedeutete mir, mich einer Kolonne deutscher Soldaten anzuschließen, die unter Bewachung Richtung Innenstadt  marschierten. Dass ich den Krieg unversehrt überlebt hatte,  wurde mir zunächst gar nicht bewusst. Meine Gedanken gingen unwillkürlich in die Heimat und mir kam ein Brief meines Vaters in den Sinn, in dem er mir geraten hatte, mich von der Kriegsfurie nicht zu ihrem Spielball machen zu lassen.

 

Viele Jahre später fand ich im Nachlass meines Vaters fein sortiert alle Kopien seiner Briefe, in denen er sich als Sozialist alter Schule um meine Zukunft sorgte.„Du weißt, was ich vom Krieg an und für sich halte“, schrieb er mir zum siebzehnten Geburtstag. „Ich hasse ihn, weil er nur Tod und Zerstörung hinterlässt. Man müsste alle Kriegstreiber jenem Schicksal überantworten, das insbesondere die ärmeren Volksschichten in Kriegszeiten zu erleiden haben. Man müsste sie mittellos und obdachlos für Jahre machen, damit sie an sich selbst erproben, was sie anderen zynisch zumuten.“ 

 

Auf unserem Marsch durch das zerstörte Berlin rollten immer wieder sowjetische  Militärfahrzeuge an uns vorbei, die zur Feier des bevorstehenden 1. Mai mit roten Transparenten geschmückt waren.. Auch der letzte Brief meines Vaters trägt dieses denkwürdige Datum. „Ich wünsche von ganzem Herzen“, dass Du aus diesem furchtbaren Gemetzel heil herauskommst“, heißt es darin. „Weil wir Dich in Berlin vermuten, sind unsere Herzen schwer und unsagbar traurig.“

 

Keiner begreife, warum der Krieg noch weitergeht. Jeder fühle, dass das Ende da ist und keiner habe den Mut, zu sagen: Ich mache nicht mehr mit. Damit sich keiner findet, dafür sorgten die täglichen Erschießungen von „Deserteuren“. Wie man hört, vergeht in der Tat kein Tag, an dem hier kein Todesurteil vom Standgericht gefällt werde. Der letzte Brief meines Vaters endet wie folgt: 

 

„War dieser Krieg nötig mit seinem Grauen und seinen Opfern? Wozu  noch hat man Euch Siebzehnjährige ins Feuer gejagt? Wir sitzen da, übermüdet von der Arbeit und zermürbt von durchwachten Nächten, in denen wir uns immer wieder die Frage nach Eurer Heimkehr vorlegen, und in unseren Herzen brennt ein Schrei: gebt uns unsere Kinder, unsere Brüder, gebt den Kindern ihre Väter, den Frauen ihres Männer, den Müttern ihre Söhne wieder!“

 

„So denken wir. Und was tun wir? Wir sind gelähmt von Egoismus und Feigheit, wir finden nicht die Kraft, wie wir sie vorher nicht fanden, das Ende des Krieges zu verlangen. Wir alle sind Gefangene einer Psychose, eingeschüchtert durch die Polizei- und Gestapomethoden eines Reiches, dessen Söhne keine Geringeren waren als Goethe, Schiller, Kant, Hegel, Fichte und viele andere. Doch einmal werden wir erwachen aus der Psychose und wieder klar denken, um vernünftig, das heißt menschlich zu handeln.“


Fotos: 
Eugen und Kurt Nelhiebel
©privat