DAS JÜDISCHE LOGBUCH Anfang September
Yves Kugelmann
Hamburg (Welrexpresso) - Im Schnittraum eines Studios diskutieren Redakteure Untertitel und die Frage, was eigentlich jüdische Musik ist: Musik von Juden oder solche mit jüdischen Themen? Ein Film über ein Berliner Musiklabel der 1930er Jahre gibt Anlass dazu – eine interessante, aber nicht neue Evaluation. Mitten im Gespräch poppen die News der deutschen Nachrichtenportale auf. Bayern hat einen neuen Skandal. Hubert Aiwanger soll als Schüler ein Flugblatt mit rechtsextremen und antisemitischen Inhalten verfasst und verbreitet haben. Was ist ein Antisemit? Einer, der Antisemitisches von sich gibt, oder nur jener, der wirklich antisemitisch denkt?
Antisemitismus ist längst kein Antisemitismus mehr, sondern Spielball von Interessenpolitik geworden – leider auch bei jüdischen Funktionären. Antisemitismus wird zu oft einem oder keinem, abhängig von Absender und Kontext, anstatt wertfrei beurteilt zu werden.
Täglich kommen neue Vorwürfe ans Tageslicht: Aiwanger soll regelmässig mit «Mein Kampf» in der Tasche unterwegs gewesen sein, Hitlergruss, Judenwitze und so fort. Natürlich gilt auch hier die Unschuldsvermutung, die es allerdings gar nicht benötig: Denn es geht hier noch nicht um einen Gerichtsfall. Es geht um eine dubiose Affäre, in der der Angeschuldigte wortkarg bleibt. Während deutsch-jüdische Funktionäre bei jedem Hitlergruss auf der Strasse sofort mit langen Statements zur Stelle sind und die nationalen Medien über Agenturen bedienen, ist es erstaunlich ruhig in der Affäre Aiwanger. Es ist nun mal Wahlkampf, und da möchte es sich niemand mit den künftigen Verantwortlichen verderben. Was ist Antisemitismus? Diskriminierung, Ausgrenzung, Stigmatisierung von Juden oder das, was Funktionäre für Antisemitismus befinden? Der deutsche Historiker Michael Wolffsohn verteidigt Aiwanger und kritisiert die Kritiker: «Der grösste Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant.» Nun, vielleicht ist Wolffsohn selbst zum Denunzianten an der wie auch immer definierten jüdische Sache geworden. Aiwanger ist natürlich ein Antisemit. Ein klassischer dazu. Genauso, wie AFD-Politiker Björn Höcke ein Nazi ist – ohne dass er ein Nazi ist. Deutschland war voll von nicht-antisemitischen Antisemiten. Jene, die die Flugblätter geschrieben und verteilt haben, jene, die von nichts wussten, jene, die «Mein Kampf» immer und immer wieder zitierten, jene, die Juden meinten, aber sie nicht nannten, jene Judenhasser, die ohne das Wort Jude auskamen – und so fort. Juden die solches verteidigen, sind deshalb noch lange keine jüdischen Selbsthasser. Sie werden dann mal beantworten müssen, ob Eichmann ein Antisemit war oder nicht. Die Dinge können bis zur Unsichtbarkeit differenziert werden – im intellektuellen Diskurs eine beliebte Disziplin. Absurdistan ist überall, zumal im Freistaat Bayern die Vorzeichen generell auf dem Kopf stehen. Aber wie hat schon Friedrich Torberbergs Tante Jolesch gesagt: «Was ein Mann schöner is wie ein Aff, is ein Luxus.»
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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 1. September 2023
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.