Bildschirmfoto 2023 09 29 um 23.07.05Blick auf die Eröffnungsveranstaltung für die 700-Jahr-Feier von Vilnius

Redaktion tachles

Vilnius (Weltexpresso) - Vilnius feiert sein 700-jähriges Bestehen, doch die litauischen Juden gedenken eines dunkleren Jahrestages – der Liquidierung des Wilnaer Ghettos.

Der Legende nach begab sich der Großherzog von Litauen Anfang des 14. Jahrhunderts auf einen Jagdausflug. Eines Nachts träumte er von einem riesigen eisernen Wolf, von dem ihm ein Priester später erzählte, dieser sei ein Zeichen dafür, dass er an der Stelle, an der er geschlafen hatte, eine Stadt errichten sollte.Unabhängig davon, ob diese Geschichte wahr ist oder nicht, ist es unbestritten, dass die heutige litauische Hauptstadt Vilnius in Dokumenten und Briefen zum ersten Mal im Jahr 1323 unter ihrem früheren Namen Vilna erwähnt wurde – in den Augen der Regierung ist dies das 700-Jahr-Jubiläum der Stadt.Die Stadt begeht das Jubiläumsjahr 2023 mit verschiedenen Festivals, Ausstellungen visueller Kunst, Vorträgen und mehr. Die Organisatoren von «Vilnius 700» betonen, dass sie jüdische Menschen und Themen durch eine Reihe von Programmen in die Feierlichkeiten einbeziehen.Das liegt daran, dass Vilnius ab dem frühen 19. Jahrhundert eine Zeit lang eines der wichtigsten jüdischen Zentren der Welt war, bekannt als das Jerusalem des Nordens. Ungefähr die Hälfte der Stadtbewohner war jüdisch, und die Stadt war ein jüdisches kulturelles Kraftzentrum, eine tiefe Quelle der jiddischen und hebräischen Literatur. Im Jahr 1910 gab es in der Stadt über 100 Synagogen sowie jüdische Schulen, Publikationen und wohltätige und politische Organisationen.«Die jüdische Gemeinde ist ein integraler Bestandteil der Vergangenheit und Gegenwart von Vilnius und spielt eine wichtige Rolle im täglichen Leben der Stadt», schrieb Tomas Gulbinas, stellvertretender Bürgermeister von Vilnius, in einer E-Mail.


Spannungen

Doch dieses Wochenende markiert auch einen dunkleren Jahrestag: 80 Jahre seit der endgültigen Liquidierung des Wilnaer Ghettos, eines jüdischen Ghettos, in dem fast alle der über 50 000 Juden durch die Nazis umkamen.Am Samstag nahm die litauische Ministerpräsidentin Ingrida Simonyte gemeinsam mit anderen an einem Marsch vom ehemaligen jüdischen Ghetto der Stadt nach Paneriai teil, dem Waldgebiet, das früher unter dem Namen Ponary bekannt war und in dem die Nazis und ihre lokalen Kollaborateure während des Holocausts innerhalb von drei Jahren 70 000 Juden, die meisten davon Litauer, ermordeten.Die beiden Jahrestage haben die Spannungen im Zusammenhang mit der historischen Erinnerung in Litauen deutlich gemacht, wo, wie in den Nachbarländern Polen und Lettland, die Rolle der lokalen Kollaborateure bei der Durchführung der mörderischen Pläne der Nazis von offizieller Seite heruntergespielt wird. In der Stadt gibt es zahlreiche Denkmäler für Litauer, die mit den Nazis gegen die Sowjetunion kämpften, sodass die 700-Jahr-Feier sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne von dieser Geschichte überschattet wird.«Es gibt eine unauflösbare Spannung zwischen dem Wunsch zu feiern und dieser Geschichte, an der nicht viel zu feiern ist», sagte Laimonis Breidis, ein gebürtiger Einwohner Vilnius, dessen Buch «Vilnius: City of Strangers» («Stadt der Fremden») die Geschichte der Stadt aus der Sicht von Reisenden beleuchtet. Die größte Herausforderung sei, dass «alles, was über die Stadt erzählt wird, in Schubladen unterteilt ist».Fast alle der wenigen tausend Juden, die heute in Vilnius leben, haben familiäre Verbindungen zu Menschen, die während des Holocaust starben, sagte Faina Kukliansky, Vorsitzende der Litauischen Jüdischen (Litvakischen) Gemeinde. In einem Interview sagte sie Anfang des Jahres, dass die Gemeinde den Jahrestag des Ghettos stärker begehen wolle als die Stadt.«Ich verspreche Ihnen, dass wir, die litauische jüdische Gemeinde, dieses Datum nicht vergessen werden», sagte sie.


Aufruhr

Die Erinnerung an die Geschichte des Holocaust in Litauen wurde 2019 zu einem hochdramatischen Thema, nachdem die Chicagoer Lehrerin Sylvia Foti ein Buch veröffentlicht hatte, in dem sie schildert, wie ihr Grossvater – Jonas Noreika, ein General und ehemaliger Nationalheld – mit den Nazis über die Ausrottung der Juden übereinstimmte.Das Buch löste einen Aufruhr aus. Das litauische Parlament stimmte daraufhin für die Absetzung des Leiters des nationalen Genozid-Forschungszentrums, Adas Jakubauskas, nachdem dieser behauptet hatte, Noreika habe versucht, Juden zu retten. 17 Historiker beschwerten sich in einem Schreiben an das Zentrum, dass Jakubauskas die Qualität ihrer Forschung beeinträchtige. Jakubauskas behauptete seinerseits, er sei von Israel und Russland unter Druck gesetzt worden, litauische Beteiligte ohne Beweise anzuklagen.Dennoch gedenkt das Land weiterhin des Holocaust, ohne auf die Rolle hinzuweisen, die Litauer bei der Durchführung des Holocaust gespielt haben. Dani Dayan, Vorsitzender von Yad Vashem, der israelischen Holocaust-Gedenkbehörde, sagte diese Woche in einer Sondersitzung des litauischen Parlaments, dass das Land «konsequent anerkennen muss, dass viele der litauischen Juden, die im Holocaust massakriert wurden, durch die Hand ihrer litauischen Mitbürger starben und dass Litauer auch an der Ausrottung von Juden in Nachbarländern beteiligt waren».Eine solche Würdigung steht nicht im Mittelpunkt des Programms von «Vilnius 700», was zum Teil daran liegt, dass die Betonung der Feierlichkeiten die Aufmerksamkeit auf glücklichere Momente der lokalen jüdischen Geschichte lenkt.Gulbinas zählte die jüdischen Projekte auf, die die Stadt im Zusammenhang mit ihrem 700-jährigen Bestehen durchgeführt hat: Stadtführungen, die von Undiscovered Vilnius organisiert werden und die jüdische Geschichte der Stadt beleuchten; die Beteiligung der Stadt am Wiederaufbau der Grossen Synagoge von Vilnius, die von den Nazis grösstenteils zerstört wurde; die Renovierung des Grabes des Vilna Gaon, eines sehr einflussreichen Rabbiners aus dem 18. Jahrhundert, und die Pflege jüdischer Friedhöfe; und ein Graffiti-Kunstprojekt, «Walls That Remember», bei dem Künstler Bilder gemalt haben, die an die Zeit erinnern, als die jüdische Gemeinde der Stadt blühte.«Gleichzeitig ehrt Vilnius die gegenwärtigen jüdischen Bräuche und Traditionen, in-dem es zum Beispiel jedes Jahr gemeinsam mit der örtlichen jüdischen Gemeinde Chanukka feiert», schrieb Gulbinas. Ein Pavillon im Litauischen Nationalmuseum, der noch bis zum 15. Oktober geöffnet ist, stellt Vilnius so dar, wie es vor 200 Jahren aussah – zu Beginn der jüdischen Blütezeit der Stadt.In der Zwischenzeit hat die jüdische Gemeinde Veranstaltungen zum Ghetto-Jahrestag ausserhalb der Feierlichkeiten von «Vilnius 700» durchgeführt. Anfang dieses Monats nahm Šimonytė im Hof des ehemaligen Sitzes des Judenrats im jüdischen Ghetto an einer Ausstellung und einem Konzert zum Jahrestag der Liquidierung teil.



Jüdisches Konzert

Am Donnerstag stellte die Stadt Vilnius eine Gedenkroute vor – «Panerių kelias» oder Strasse von Paneriai, benannt nach dem Ort eines Massakers an 100 000 Menschen, von denen viele Juden waren –, entlang derer am selben Tag und am 24. Oktober Prozessionen organisiert wurden. Eine weitere Ausstellung mit dem Titel «Healing Soul Wounds» (Heilung von Seelenwunden) wurde letzte Woche eröffnet. Sie zeigt die traumatischen Erfahrungen und Dilemmas junger Mädchen, Jugendlicher und Frauen, die unter den brutalen Bedingungen des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust überleben mussten.In einigen Fällen wurden die Geschichte von Vilnius und die des Wilnaer Ghettos in offiziellen «Vilnius 700»-Veranstaltungen ge-meinsam gewürdigt. Bei einem Konzert vor dem ehemaligen Jüdischen Rat des Wilnaer Ghettos im Juli stellte Michael Gordon, der amerikanische Komponist und Gründer des renommierten Musikkollektivs Bang on a Can, eine Originalkomposition für neun Posaunen vor.Das Konzert im Innenhof durchzuführen war Gordons Idee. Die Organisatoren der Musikkomponente von «Vilnius 700» hätten sich an ihn gewandt und ihm eine Liste von Orten geschickt, an denen er eine Originalkomposition uraufführen könnte. In seiner Antwort an die Organisatoren wies er darauf hin, «dass es in Vilnius eine grosse, lange und glanzvolle Geschichte der jüdischen Kultur gibt, sowohl der säkularen als auch der sakralen, und dass keine dieser vorgeschlagenen Stätten jüdische Stätten sind. Können wir eine jüdische Stätte in Betracht ziehen? Und sie sagten mir, ja, grossartig.»Gordon wählte den Innenhof unter anderem wegen seiner Verbindung zur jüdischen Kunst: Auf der einen Seite des Hofes stand ein jiddisches Theater, auf der anderen ein jiddisches Konservatorium. Und die Stadt hat auch eine persönliche Verbindung zu Gordon, dessen Vater, ein Litvake, in den 1930er Jahren in Vilnius lebte. Er nannte seine Komposition «Resonance».Rund 300 Menschen kamen zu dem Kon-zert, sagte Gordon, der ein wenig über «die Präsenz der jüdischen Kultur in der litauischen Geschichte» sprach. «Ich war glücklich darüber«, sagte er. «Ich hatte das Gefühl, dass es meine Verantwortung war (…) Ich habe die Möglichkeit, hierher zu gehen und in gewissem Sinne die jüdische Geschichte an diesem Ort zu ehren, in diesem sehr wichtigen Zentrum jüdischen Lernens und jüdischer Kunst und Kultur.»


Schön, aber auch beschämend


Diese Art von Aufmerksamkeit war in der Vergangenheit viel zu selten, meint Laima Lauckaite, die Kuratorin einer gemeinsamen Ausstellung des litauischen Kunstzentrums TARTLE und des YIVO Institute for Jewish Research in New York City, die jetzt eröffnet wird. Lauckaite wuchs nicht im vollen Bewusstsein der jüdischen Geschichte ihrer Stadt auf, als sie während der Sowjetzeit als Schülerin in der Nähe der ehemaligen Gros-sen Synagoge von Vilna zur Schule ging. Die sowjetischen Behörden hatten die Ruinen der Synagoge abgerissen und eine Schule errichtet; die unterirdischen Überreste wurden erst 2015 entdeckt. «Ich wusste nicht, dass es die Grosse Synagoge gibt», sagte sie. «Ich habe erst 30 Jahre später davon erfahren.»Die Gemeinschaftsausstellung in New York City zeigt eine Ausstellung von Vilnius-Reiseführern, die die Geschichte der Stadt im 19. und 20. Jahrhundert und «ihre multiethnische, multikulturelle Landschaft« widerspiegeln. Der litauische Präsident Gitanas Nausėda besuchte letzte Woche das YIVO, um die Juden zu würdigen, die seltene Bücher und Dokumente aus dem Wilnaer Ghetto gerettet hatten.Dovid Katz, ehemaliger Professor für Jiddistik an der Universität Vilnius, hat die letzten 15 Jahre damit verbracht, die Website «Defending History» zu gestalten, die sich dem Kampf gegen die geschichtliche Verzerrung des Holocaust widmet. Er hat auch an zahlreichen Veranstaltungen anlässlich von «Vilnius 700» teilgenommen.

«Es ist zwar sehr schön, dass die Behörden jüdische Themen in die diesjährigen Gedenkfeiern zur Geschichte der Stadt aufgenommen haben, aber es ist beschämend, dass sie keinen der staatlich geförderten Schreine im öffentlichen Raum für die Kollaborateure und Täter des Holo-caust dauerhaft entfernt haben», sagte Katz.Er betonte, dass die Erzählungen, die die Schuld Litauens am Holocaust herunterspielen, von einigen wenigen einflussreichen Nationalisten ausgingen und nicht von der Masse der Litauer, die Vilnius feierten.«Ich lebe gerne hier. Die Menschen im heutigen Litauen sind grossartig», sagte er. «Das Problem ist eine kleine, ultra-mächtige, staatlich finanzierte ‹Geschichtsaufarbeitungseinheit›, die bei diesen Themen in Politik, Museen, Medien, Kunst und Wissenschaft dominiert.»Katz schlug auch vor, dass die jüdische Gemeinde sich auf einen anderen Jahrestag hätte konzentrieren sollen – und dass ihre Aufmerksamkeit für die Septemberdaten im Zusammenhang mit der Liquidierung des Ghettos die Probleme des Holocaust-Gedächtnisses im Lande verfestigte.

«Von den Tausenden litauisch-jüdischen Holocaustüberlebenden, die wir über mehr als drei Jahrzehnte hinweg befragt haben, waren alle der Meinung, dass der 23. Juni der angemessene Tag für das Gedenken an den litauischen Holocaust ist», sagte er. An diesem Tag im Jahr 1941 «wurden 600 Jahre Frieden durch den Ausbruch von Barbarei, Demütigung und Gemetzel in Hunderten von Städten im ganzen Land gebrochen. Ende 1941 waren alle rund 250 geschichtsträchtigen shtétlakh (Schtetl) vernichtet, ebenso wie die überwältigende Mehrheit der litauischen Juden». Sich nur auf die Liquidierung des Ghettos zu konzentrieren, sagte er, «spiegelt den Versuch des Staates wider, von der eigentlichen Geschichte abzulenken, indem man sich nur auf die Deutschen konzentriert und nicht auf die Tausenden von lokalen Beteiligten im ganzen Land».«Vilnius 700»-Veranstaltungen sind bis zum Ende des Jahres geplant und sorgen dafür, dass die Spannungen über Geschichte und Erinnerung in der Stadt weiter schwelen.Aber nicht alle sehen die Notwendigkeit, die Stadt und den Holocaust-Gedenktag im selben Gespräch zu erwähnen. David Roskies, emeritierter Lehrstuhlinhaber für jiddische Literatur am Jewish Theological Seminary in New York, schrieb in einer E-Mail: «Ich sehe keine Überschneidung zwischen den beiden Jahrestagen. Das ist reiner Zufall. Wer kann schon genau sagen, wann Vilnius gegründet wurde?»


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Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 29. September 2023