Die Ereignisse nach Jom Kippur in Israel
Redaktion tachles
Tel Aviv (Weltexpresso) - Nach den Ereignissen von Erew Jom Kippur (Foto) wollte der Nationale Sicherheitsminister am Donnerstag ein öffentliches Gebet mitten in Tel Aviv abhalten. Am Abend des höchsten Feiertages war die nationalreligiöse Organisation «Rosh Yehudi», die der ultrarechten Regierung nahesteht, am Dizengoff-Platz zusammengekommen, um dort öffentlich zu beten – mit einer Mechize, also einer Trennung von Männern und Frauen. Doch das war ihr vom Gericht verboten worden. Im öffentlichen Raum sei Geschlechtertrennung nicht zulässig. Das aber interessierte die Organisatoren des Gebets nicht, sie setzten sich über den Gerichtsbeschluss hinweg.
Daraufhin kam eine Gruppe der Protestbewegung und hinderte die Menschen, dort zu beten; sie rissen die Mechize herunter, es kam zu Tumulten. Bemerkenswert war, dass die Polizei, die den Gerichtsbeschluss eigentlich durchsetzen müsste, nichts tat. Nach Jom Kippur nutzten Premier Netanyahu und andere den Vorfall, um die Protestierenden zu brandmarken. Sie hätten «Juden» am Gebet gehindert, das sei ein Skandal.
Dabei setzten der Premier und auch der Nationale Sicherheitsminister einen Ton, den man schon länger von ihnen kennt. Es gibt die «Protestierenden» oder die «Linken» und es gibt «Juden». Mit anderen Worten: liberale, protestierende Israelis sind keine Juden. So weit geht der Hass inzwischen.
Die Führer der Protestbewegung kritisierten später die Aktion von ein paar hundert Menschen, die sich gegen die Betenden gerichtet hatte, wenngleich sie die Missachtung des Gerichtsbeschlusses ebenfalls kritisch kommentierten. Ben Gvir wollte nun als Provokation erneut ein Gebet im öffentlichen Raum durchziehen. Doch dann kam Gegenwind auf – von seinen eigenen Koalitionären und auch vielen Frommen, die erklärten, ein Gebet dürfe niemals politisch missbraucht werden.
Netanyahu und andere wollten nicht, dass eine solche Provokation noch mehr Unruhe stiftet. So wuchs der Druck auf Ben Gvir, der schließlich seine Pläne aufgab. Aber natürlich noch einmal darauf hinweisen musste, dass säkulare Israelis gegen das «Judentum» kämpfen würden. Yair Netanyahu, der Sohn des Premiers, tweetete, die Protestierenden hätten «ähnlich wie Antisemiten in Europa Juden für alles verantwortlich gemacht, nachdem sie ein Pogrom begangen haben». Der Ton ist gesetzt. Und damit ist klar, worum es in diesem Machtkampf auch geht: nicht nur um Demokratie oder Autoritarismus, sondern um die Frage, was Judentum ist. Und wer ein «echter» Jude ist und wer nicht. Die Spaltung der israelischen Gesellschaft wird immer tiefer, der Riss ist kaum noch zu schließen.
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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 29. September 2023