DAS JÜDISCHE LOGBUCH Mitte November
Yves Kugelmann
Paris, (Weltexpresso) - Die Medien, die es so nicht gibt, haben die Juden, die es so nicht gibt, entdeckt. Die Zeitungslektüre im TGV wird zum Psychogramm einer eventgetriebenen Gemeinschaft. Seit den Hamas-Massakern werden Jüdinnen und Juden durch die Medien gezerrt, als ob es kein Vorher gäbe. Als ob sie wie Außerirdische wie in einer Szene in «Dune II» auf dem Planeten eingetroffen wären, wird das Mysterium dieser jüdischen Avatare untersucht, thematisiert, Befindlichkeit abgefragt, werden Judenbilder von einer verängstigten, bedrohten, wehrlosen Gemeinschaft kreiert, die nur noch in Hochsicherheitstrakten überleben kann und Israels fünfte Brigade ist.
Journalistenanfragen prasseln auf die Redaktion ein. War da nicht etwas vor dem 7. Oktober? Jüdinnen und Juden, die seit Jahrzehnten eh und je als integraler Teil der Gesellschaft in der Schweiz leben, wirken, Sorgen und Freuden teilen? Wer hat sich vor dem 7. Oktober abseits von Krieg und Skandalen vertieft und integer für das Jüdische in der Schweiz interessiert? Die Einen werden argumentieren: «Medien funktionieren nun mal newsgetrieben.» Ist das so? Natürlich nicht. Medien kennen Vertiefung, Hintergrund, Analyse und benötigen nicht die Eskalation als Redaktionskonzept, die von Stereo-typisierung ausgeht und zu Stigmatisierung führt. Und doch scheint dieses Qualitätsmerkmal bei vielen ausgehoben worden zu sein. In vielen Beiträgen der Gegenwart arbeiten sich Medienschaffende an Muslimen und Juden ab. Jüdische und muslimische Normalität ist kein Thema, Expertise ohnehin kaum vorhanden.
Der TGV bremst ab auf der Fahrt nach Paris. Es heißt: Vandalismus auf der Strecke. Der Zug wird über die Hochgeschwindigkeitstrasse von Lyon umgeleitet. Es ist ein sonniger Herbsttag, die friedlichen Landschaften so konträr zur Nachrichtenlage. In Paris am Gesprächstisch unweit des Park Monceau sitzen jüdische, muslimische und israelische Persönlichkeiten einer UNESCO-Organisation und reflektieren die Situation seit den Angriffen der Hamas, den Massakern, Geiselnahmen. Jede und jeder am Tisch war jahrzehntelang in Friedensarbeit engagiert, große Persönlichkeiten aus Europa, Israel und aus dem Maghreb. Die gemeinsame Basis ist eine hohe Dialog- und Zuhörkompetenz trotz sehr unterschiedlicher Positionen, die aber in einem geeint sind: Es gibt keinen Plan B für Israels und Palästinas nächste Generation, wenn nicht jetzt Lösungen in der Region und im Zusammenleben ausserhalb gefunden werden. Natürlich findet der Dialog in einer Art geschütztem Rahmen des Vertrauens statt. Er ist aber zugleich das Gegenbild zur konfrontativen, aufgeladenen Wirklichkeit auf den Strassen, mit Antisemitismus, Hetze und Rückzug in die eigenen Communities statt Zeichen der gemeinsamen Anliegen, die auch heute noch eine – allerdings zu schweigende – Mehrheit ausmachen.
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Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 10. November 2023
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.