Ein Minister fordert Kriegstüchtigkeit – Die Gewerkschaften üben sich in politischer Enthaltung
Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) – Als ich zum ersten Mal las, dass ein deutscher Minister verlangt hat, das deutsche Volk müsse kriegstüchtig gemacht werden, stockte mir der Atem. Ich dachte, am nächsten Tag würden Tausende auf die Straße gehen und die Entlassung des Ministers verlangen. Aber nichts dergleichen geschah. Den Gewerkschaften ist eine warme Suppe anscheinend wichtiger, als das Bekenntnis zu Frieden und Völkerverständigung als Antwort auf das Geschwätz von der angeblich dringend notwendigen Kriegstüchtigkeit.
Völlig zu Recht erklärt der Kolumnist der Süddeutschen Zeitung, Heribert Prantl, in der Ausgabe vom 10. November, die Forderung von Boris Pistorius sei nicht nur falsch, sondern auch gefährlich. Ein Verteidigungsminister müsse alles dafür tun, den Frieden zu erhalten. Dazu gehörten natürlich militärische Mittel. Kriegstüchtigkeit sei etwas anderes als Verteidigungstüchtigkeit. Im Grundgesetz heiße es, der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf. Dort stehe das Wort Verteidigung, nicht das Wort Krieg. „Der Gehalt der deutschen Verfassung und deutsche Staatsräson sind Völkerverständigung und Friedensdenken. Das soll so bleiben, das muss so bleiben; und eine Kriegstüchtigkeitsdiskussion ausgerechnet zum Beginn des 75. Grundgesetzjubiläums anzuzetteln, ist eine Beleidigung für die Mütter und Väter des Grundgesetzes.“
Hier gehe es nicht um einen semantischen Unterschied, fährt Prantl fort, sondern ums Ganze. Das Wort Krieg programmiere das Hirn anders als das Wort Verteidigung. Das Wort Kriegstüchtigkeit aktiviere und optimiere alte Denk- und Verhaltensmuster, es führe zu einem positiven Bild vom Krieg, es bricht der ständigen Aufrüstung Bahn und behauptet, das sei „tüchtig“. Deutschland und Europa brauchten nichts Kriegs-, sondern Friedenstüchtigkeit; das sei die Lehre aus der europäischen Geschichte.
Abschließend schlägt Prantl einen Bogen zum aktuellen Tagesgeschehen. Er schreibt: „Zur Friedenstüchtigkeit gehört heute die Betonung von Diplomatie und ihr mit militärischer Unterstützung gepaarter Wille, dem Krieg in der Ukraine und damit dem Flüchtlingselend ein rasches Ende zu setzen. Zur Kriegstüchtigkeit gehört die Verteufelung von Nachdenklichkeit und Besonnenheit; zu ihr gehört es, diejenigen, die vor einer Eskalationsspirale warnen, als Putin-Freunde zu denunzieren. Pistorius sollte nicht für Kriegstüchtigkeit, sondern für Friedenstüchtigkeit werben.“
Foto:
Tommy Schwarwel
@TSchwarwel,
der hoffentlich einverstanden ist, daß er sein zum Artikel passendes Foto hier abgedruckt sieht!