Yves Kugelman
Basel/Biel/Zürich (Weltexpresso) - Die Mitgliedsgemeinden der beiden jüdischen Dachverbände sind seit dem 7. Oktober neu herausgefordert – Daniel Frank, Präsident des Centralcomités des SIG, über Ängste, Antisemitismus und Völkerrecht.
tachles: Der 7. Oktober stellt neben Israel die jüdische Gemeinschaft weltweit vor alte und neue Herausforderungen. Wie ist die Situation für die Mitgliedsgemeinden im Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG), welche im Centralcomité mehrmals pro Jahr zusammen kommen?
Daniel Frank: Die großen Gemeinden haben generell ein gutes Sicherheitsdispositiv und konnten darauf zurückgreifen. Für die kleineren Gemeinden war es wichtig, möglichst schnell mit den Kantonen und den lokalen Polizeikorps in Kontakt zu treten. Das hat gut geklappt. Polizei und Behörden in Kantonen mit jüdischen Gemeinden haben schnell reagiert, die Politik hat ihre Unterstützung bei der Abwehr von antisemitischen Akten zugesichert.
Wie außerordentlich ist die Situation in ihrer Einstufung, was ist echte Solidarität oder eben Symbolpolitik?
Es ist eine außergewöhnliche Situation. In dieser Form ist der Konflikt vor Ort und die Reaktion auf den Straßen weltweit noch nie eskaliert. Entsprechend sind auch in der Schweiz, nicht nur in den jüdischen Gemeinden, natürlich die Emotionen hochgegangen. Die Bedrohungslage ist nicht auf den Nahen Osten limitiert. Daher haben die jüdischen Gemeinden auch in der Schweiz die Sicherheits- und andere Maßnahmen verschärft.
Das Fedpol ist in der Schweiz für die Gefahreneinschätzung zuständig. Auf welcher Basis treffen Gemeinden Entscheidungen?
Zu Beginn war nicht klar, wie die Antisemitismus-Welle und der Haß gegen alles Jüdische, alles Israelische auch in die Schweiz überschwappen wird. Die propalästinensischen Demonstrationen wurden teilweise im Rahmen der Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit bewilligt. Aber sobald man sich dann eben mit den Attentätern des 7. Oktober solidarisiert und deren Verbrechen direkt oder indirekt gutheisst, bewegen wir uns in einer anderen Dimension. Zu Beginn war die Sorge hier in den jüdischen Gemeinden sehr gross. Die jüdischen Gemeinden haben da selbst Maßnahmen im Rahmen der Sicherheitsdispositive vorgenommen, verstärkt durch Masßahmen der Kantons- oder Stadtpolizeien. Auf Bundesebene ist der SIG in Kontakt mit den Behörden.
Was heisst das konkret und wie viel psychologische Arbeit ist nötig, um Jüdinnen und Juden in der Schweiz ihre Angst zu nehmen?
Es ist wichtig, dass wir die Mitglieder transparent informieren, sodass sie sich nicht in der falschen Sicherheit wiegen, dass in der Schweiz alles gut sei. Das ist es nämlich nicht. Auf der anderen Seite dürfen wir nicht in Panik verfallen. Es ist wichtig, dass Jüdinnen und Juden ihr jüdisches und ihr übliches Leben leben und sich nicht vor lauter Angst nicht herauswagen oder nicht mehr in die Synagoge gehen. Es gilt die Balance zwischen Wachsamkeit und gleichsam der Normalität des Alltags zu erhalten. Die Gemeinden haben ihre Mitglieder über die konkrete Situation informiert und Verhaltensempfehlungen abgegeben.
Sie selbst stammen aus Basel, leben in Biel und sind dort im Vorstand der Jüdischen Gemeinde. Die mediale Diskussion fokussiert sich auf die Großstädte. Wie ist die Situation in Biel?
Bisher hatten wir in Biel jeweils eher antisemitische Vorfälle aus dem rechtsextremen Milieu festgestellt. Das gilt auch für die Attacke auf die Synagogentüre vor rund zwei Jahren, als diese mit Hakenkreuzen und antisemitischen Parolen geschändet worden war. Im Moment ist die Lage unklar: die aktuellen schriftlichen Drohungen im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt ordnen wir in Biel eher dem rechtsextremen Spektrum zu. Bei Demonstrationen für Palästina in anderen Städten der Schweiz stammen die antisemitischen und israelfeindlichen Parolen eher von Teilnehmern aus dem arabischen Raum oder dem linksextremen Spektrum. Wir stellen fest, dass sich in der Abneigung gegen Jüdinnen und Juden rechtsextremes und islamistisches Gedankengut verknüpfen.
Der Konflikt spaltet die öffentliche Meinung. Kritik, Solidarität und Antisemitismus sind die Folge. Was steht da für Sie im Vordergrund?
Juden sind eine kleine Minderheit in der Schweiz mit einer relativ langen, aber nicht nur einer schönen Geschichte: rechtliche Diskriminierung bis zur Verfassungsänderung im Jahre 1866, das problematische Verhalten der Behörden während des Zweiten Weltkrieges oder der Umgang mit der Aufarbeitung der Geschichte und Restitution stehen da auf der Negativseite. Deshalb reagieren Jüdinnen und Juden sehr sensibel darauf, wie Behörden in solchen Situationen wie der aktuellen reagieren oder eben nicht reagieren. Für uns ist es extrem wichtig, dass wir von höchsten politischen Entscheidungsträgern diese Solidarität erfahren. Schöne Worte alleine reichen aber nicht, es müssen auch die entsprechenden Massnahmen erfolgen. Antisemitismus, aber auch öffentlich geäusserter Rassismus und die Gefährdung religiöser und anderer Minderheiten sind klare Grenzüberschreitungen, wo der Staat einschreiten muss. Daher fokussiert auch der SIG zurzeit primär auf die Sicherheitslage der Schweizer Jüdinnen und Juden.
Was ist denn für Sie in den nächsten Tagen und Wochen die größte Herausforderung?
Zurzeit sind wir alle gewollt oder ungewollt einer starken Bilderflut auf den herkömmlichen und sozialen Medien ausgesetzt. Wir waren alle schockierte Beobachter der Terrorakte gegen israelische Staatsbürger und -bürgerinnen, Jüdinnen und Juden, aber auch Personen anderer Nationalität und Religion. Ebenso halten die Raketenangriffe der Hamas auf Israel an. Wir leiden auch in der Schweiz mit den betroffenen Familien und Freunden, vor allem auch mit jenen, deren Liebste noch immer als Geiseln gefangen gehalten und gefoltert werden. Aber auch die Bilder, die uns von den Opfern unter der Zivilbevölkerung und den Zerstörungen in Gaza erreichen, sind nicht schön und verstören uns als Menschen natürlich ebenfalls. Das Augenmerk der Weltöffentlichkeit auf die Bilder aus Gaza hat aber leider dazu geführt, dass vielerorts die schweren Massaker der Hamas vom 7. Oktober an israelischen und jüdischen Babys, Kindern, Frauen und Männern jeden Alters oder auch an Menschen mit Behinderungen zu rasch aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit gewichen sind. Es geht aber nicht um ein gegenseitiges Ab- und Aufwägen und die Verpolitisierung des Leids, sondern jedes Opfer und das Leiden seiner Familie soll anerkannt werden.
Nun ist das ja eine Gratwanderung: Für Außenstehende ist es nicht immer einfach, die Ursachen dieses Konflikts zu verstehen, und was jüdische und israelische Anliegen sind. Und zum anderen gibt es auch unterschiedliche jüdische Stimmen zu diesem Konflikt. Wie kann man diesen Spagat vollführen?
Sie sprechen eine wichtige Frage an. Die Vermischung von Israel und Juden führt dazu, dass die jüdische Gemeinschaft von einigen Seiten für die Opfer in Gaza direkt oder indirekt verantwortlich gemacht und dadurch antisemitische Handlungen legitimiert werden. Die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz per se gibt es aber nicht. Es gibt solche, die sich jeweils hinter die aktuelle Regierung Israels stellen, und es gibt solche, die eine längerfristige Vision für das Land haben, sei es eine Zweistaatenlösung oder eine andere Form der Koexistenz Israels und seiner palästinensischen Nachbarn. Die meisten beschäftigt aber bereits jetzt die grosse Frage: «Was kommt danach?» Hier wird es verschiedene Ansätze und intelligente Köpfe brauchen, um die richtigen Fragen zu stellen, um letztlich so die richtigen Antworten zu finden.
Sie sind Völkerrechtler. Wo positionieren Sie in diesem Konflikt das Völkerrecht?
Das Völkerrecht hat in diesem Konflikt einen schweren Stand. Eine gewisse Einigkeit besteht wohl nur dort, dass Verbrechen an der Zivilbevölkerung nicht akzeptabel sind, auch wenn dies leider nicht immer explizit gesagt wird. Das Völkerrecht hat aber nicht nur in diesem Konflikt einen schweren Stand, wenn sie sich auch die anderen derzeit offenen und schwelenden Konflikte nicht zuletzt in Europa und seiner Nachbarschaft anschauen. Aber nur weil das Völkerrecht nicht beachtet wird, bedeutet dies nicht, dass es nicht existiert und eingehalten werden muss. Auch auf nationaler Ebene werden täglich Vorschriften missachtet, aber dennoch ist es wichtig, dass es sie gibt.
Der SIG muss sparen. Das Centralcomité (CC) hat dies unter Ihrer Präsidentschaft gefordert. Allerdings werden die defizitären Budgets immer abgesegnet. In zwei Wochen gibt es eine Budgetsitzung. Wie weiter?
Das CC hat von der SIG-Geschäftsleitung Einsparungen, eine nachhaltige Finanzplanung und auch eine Überarbeitung der Strategieziele verlangt. Dabei spielt auch die Finanzstrategie eine Rolle beziehungsweise die Frage, in welcher Form der SIG die Mitgliedsgemeinden unterstützen soll oder nicht. Zudem werden wir auch analysieren müssen, ob die Auswirkungen des Konflikts zwischen Israel und der Hamas neue Massnahmen in der Strategie- und Budgetplanung erfordert.
Die letzte Delegiertenversammlung hat nochmals gezeigt, dass die Gemeinden finanzielle Forderungen an den SIG haben und zugleich in finanziellen Nöten stecken. Muss nun das Geld statt von Gemeinden an den SIG in die umgekehrte Richtung fließen?
Zum einen existiert für die Gemeinden in begründeten Fällen Zugang zu einem Kohäsionsfonds. Während sich der SIG vorab auf die politische Vertretung der gemeinsamen Interessen der jüdischen Gemeinden und ihrer Mitglieder gegenüber den Bundesbehörden konzentriert, ist es sicher so, dass die Gemeinden die tägliche Last der operativen Tätigkeiten zugunsten der einzelnen Mitglieder tragen. Die Rückmeldungen der Gemeinden nach der letzten Delegiertenversammlung sind da ein wichtiges Element. Da wird es voraussichtlich noch Diskussionsbedarf an der kommenden Sitzung des CC geben.
Foto:
Daniel Frank
©tachles
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 17. November 2023