DAS JÜDISCHE LOGBUCH Ende November
Yves Kugelmann
Hamburg (Weltexpresso) - Josef K. vollends entblösst. «Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.» Das Drama muss auf den Tod hinauslaufen. Er weiß nicht, wie ihm geschieht. Ist alles wahr oder geträumt? Die Verhaftung. Das Totalitäre. Die Chiffren. Das Unmenschliche im Gewand des Menschlichen. Die geträumten Perspektiven ohne Fenster.
Die Bürokratie macht sich zur Komplizin des Systems. «Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entlässt dich, wenn du gehst.» Das Absurde ist auf einmal wieder wahr in diesen Jahren: die digitalen Parallelwelten, die Verdrängung der Freiheit, die Erniedrigung der Einzelnen. Das Surreale wird real. Die Sprache des Systems wird die Sprache der Menschen. Der Process auf der Thalia-Bühne ist vollends von jeglicher Aktualität entkoppelt und mittendrin. Pandemie, Populismus, Faschismen.
Die Denk- und Sprechverbote sind nicht ausgesprochen. Doch sie hallen Josef K. entgegen aus dem Gelächter des Surrealen. «Das Urteilkommt nicht mit einem mal, das Verfahren geht allmählich ins Urteil über.» Dem frei Gedachten, frei Gesagten stellt sich die Systemsprache der Bürokratie entgegen, wird immer inhaltsloser, absurder und zieht die Grenzen enger und enger und enger. «Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.» Die Gesellschaft ist nicht mehr Freiheit, sondern Teil der Bedrohung. Sie richtet den Einzelnen, den freien Gedanken, bedroht und macht das einst Sagbare und Wahre unaussprechbar. «Die Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber.» Die Inszenierung trifft mitten in Gesellschaftsdiskurse, ohne sie benennen zu müssen. Denn die Mechanismen gelten immer. Auch im aktuellen Nahostdiskurs. «Wenn das, was im Paradies zerstört worden sein soll, zerstörbar war, dann war es nicht entscheidend; war es aber unzerstörbar, dann leben wir in einem falschen Glauben.»
Konspiration, Manipulation, Propaganda, alternative Fakten, der Rückzug in die Verteidigungsposition, der Kampf um Deutungshoheit, die Verbrüderung mit falschen Freunden, Antisemitismen und Rassismen, die Aufwiegelung der einen und der anderen sind ein Übergriff der beteiligten oder unbeteiligten Zuschauerinnen und Zuschauern auf die Opfer und dehumanisieren den Nahostkonflikt noch weiter. Denn all dies bleibt in der realen Welt nicht folgenlos. Die virtuelle, digitale, die Welt des Systems wird zu irgendwann faschistoid «Wahrheit ist unteilbar, kann sich also selbst nicht erkennen; wer sie erkennen will, muss Lüge sein.» Und damit Propaganda wider die Menschlichkeit.
Foto:
Der Prozess, Thalia Theater Hamburg
©NDR
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 24. November 2023
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
Die Zitate stammen aus «Der Process» von Franz Kafka.