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Sein scharfer Verstand passte vielen nicht in den Kram

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) – Unter den Vielen, die ihn heute beweihräuchern, sind nicht Wenige, die mit seinen Ratschlägen in letzter Zeit  nichts anzufangen wussten. Was Henry Kissinger beispielsweise am Rande des jüngsten Weltwirtschaftsgipfels in Davos zum Konflikt zwischen der Ukraine und Russland zum Besten gab, passte den Wortführern des Westens überhaupt nicht in den Kram. Im Kern riet er ihnen, wegen des Streits um die Halbinsel Krim und einige andere von Russland beanspruchten Gebiete nicht einen Krieg vom Zaune zu brechen, der Europa in drn Untergang führen könnte.

 

Was Kissinger von anderen Politikern unterschied,  war seine umfassende Allgemeinbildung und vor allem sein Wissen um historische Zusammenhänge. Das bewahrte ihn nicht vor zeitweiligen Trugschlüssen, zum Beispiel über Sinn und Unsinn des Einsatzes von so genannten taktischen Atomwaffen in begrenzten militärischen Konflikten. Damit gab er als Berater der amerikanischen Regierung 1959 seine erstes Gastspiel in Europa. Ich sehe ihn noch auf dem Frankfurter Flughafen aus der amerikanischen Passagiermaschine steigen. Wir waren beide  damals etwa Mitte Dreißig. Journalistisch habe ich Kissinger seither niemals aus den Augen verloren, auch wenn er auf einer Bühne agierte, die sich von meinen Lebenswelten meilenweit unterschied.

 

Dass er das Kunststück fertig brachte, über Jahre hinweg in Paris mit dem  nordvietnamesischen Spitzenpolitiker Le Doc Tho  in Geheimverhandlungen ein Friedensabkommen zur Beendigung des Krieges zwischen beiden Ländern auszuhandeln, trug ihm  1973 den Friedensnobelpreis ein. Acht Jahre vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine warnte Kissinger den Westen davor, die schwelenden Spannungen zwischen den beiden Nachbarländern durch Untätigkeit und falsche Beurteilung der Konfliktursachen indirekt zu verschärfen. In einer hellsichtigen Analyse, die am 5. März 2014 von der „Washington Post“ veröffentlicht wurde, wandte er sich dagegen, die ukrainische Frage als eine Art Showdown darzustellen, bei dem es nur darauf  ankomme, ob die Ukraine sich dem Osten oder dem Westen anschließt.

 

„Wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll, darf sie nicht der Vorposten der einen Seite gegen die andere sein, sie sollte vielmehr als Brücke zwischen beiden fungieren.“ Russland müsse akzeptieren, dass der Versuch, die Ukraine in einen Satellitenstatus zu zwingen und damit die Grenzen Russlands erneut zu verschieben, Moskau dazu verdammen würde, seine Geschichte der sich selbst erfüllenden Zyklen gegenseitigen Drucks mit Europa und den Vereinigten Staaten zu wiederholen

 

Der Westen seinerseits müsse verstehen, dass die Ukraine für Russland niemals nur ein fremdes Land sein kann. Die Ukraine sei seit Jahrhunderten ein Teil Russlands, und die Geschichte der beiden Länder sei schon vorher miteinander verflochten gewesen. Die Wurzeln des heutigern Problems lägen in den Bemühungen der ukrainischen Politiker, widerspenstigen Teilen des Landes ihren Willen aufzuzwingen. Putin sollte begreifen, dass seine Politik der miltärischen Drohungen  zu einem Kalten Krieg führen würde. Die Vereinigten Staaten müssten vermeiden, Russland als einen Abweichler zu behandeln, dem man geduldig die von Washington aufgestelltem Verhaltensregeln beibringen müsse.

 

Abschließend heißt es in dem von der „Washington Post“ vor acht Jahren veröffentlichten Beitrag Kissingers: „Der Test ist nicht absolute Zufriedenheit, sondern ausgewogene Unzufriedenheit“.

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