Der israelische politische Philosoph und Intellektuelle stirbt im Alter von 90 Jahren
Redaktion tachles
Tel Aviv (Weltexpresso) - Shlomo Avineri, ein führender israelischer politischer Philosoph, linksgerichteter ehemaliger Generaldirektor des israelischen Aussenministeriums und klarer Kritiker beider Seiten des israelisch-palästinensischen Konflikts, ist am Freitag gestorben. Er wurde 90 Jahre alt.
Avineri war ein langjähriger Professor für Politikwissenschaft an der Hebräischen Universität, wo er wichtige wissenschaftliche Arbeiten über die zionistischen Denker Theodor Herzl und Moses Hess sowie über die Werke von Karl Marx und G.W.F. Hegel verfasste. Er setzte seine historische Perspektive als häufiger Kommentator in den israelischen und ausländischen Medien und als regelmässiger Kolumnist für die israelische Tageszeitung «Haaretz» ein.
1975 ernannte ihn die Regierung von Premierminister Yitzhak Rabin zum Generaldirektor des Aussenministeriums, das damals von Yigal Allon geleitet wurde. Die rechte Likud-Partei, die damals in der Opposition war, lehnte die Ernennung von Avineri, der 1971 ein Buch herausgegeben hatte, in dem er die Möglichkeit von Verhandlungen mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation untersuchte, als solche Gespräche noch illegal waren, erbittert ab. Als der Likud 1977 mit der Wahl von Menachem Begin an die Macht kam, reichte Avineri seinen Rücktritt ein.
Damals dachten viele in Israel, Avineri würde eine dovish Herausforderung für die gedemütigte Arbeitspartei darstellen. «Während seiner einjährigen Amtszeit im Aussenministerium wurde er zu einem vertrauten Gesicht im israelischen Fernsehen, und zwar in einem solchen Ausmass, dass sich Allons Berater darüber beschwerten, dass Avineri seinem Chef die Schau stiehlt», berichtete die« Jewish Telegraphic Agency» 1977.
Dennoch kehrte er an die Hebräische Universität zurück. Er leitete die politikwissenschaftliche Abteilung und widmete sich der Erforschung der geistigen Ursprünge des Zionismus.
Auch wenn er mehr als ein Dutzend Bücher über das politische Denken des 19. Jahrhunderts verfasste, blieb Avineri den aktuellen Ereignissen in Israel gegenüber sehr aufgeschlossen. In einem Artikel für Haaretz aus dem Jahr 2011 forderte er die Israelis auf, die palästinensische Perspektive zu verstehen, kritisierte aber auch die palästinensische Führung dafür, dass sie wesentliche Fakten über die Gründung Israels leugnete.
Der Krieg von 1948 sollte «nicht als ein Kampf zwischen Erzählungen gelehrt werden. Letztlich gibt es eine historische Wahrheit», schrieb er. «Und ohne das Leiden der anderen zu ignorieren, müssen solche sensiblen Themen so gelehrt werden.»
Avineri wurde 1933 als Jerzy Wiener in Bielsko, Polen, geboren. Seine Familie kam 1939 in das damalige Palästina und liess sich in Herzliya nieder. Er studierte Politikwissenschaft und Geschichte an der Hebräischen Universität von Jerusalem, wo er auch promovierte.
Als Gastwissenschaftler war er unter anderem in Yale, Cornell, an der Cardozo School of Law in New York und an der Northwestern University tätig. Ausserdem war er Gastwissenschaftler am Wilson Center, an der Brookings Institution und am Carnegie Endowment for International Peace.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion beriet er osteuropäische Staaten in Fragen der Demokratisierung und war 1989 Beobachter bei den Wahlen in Ungarn und der Tschechoslowakei.
Für seine Forschungen wurde Avineri 1969 mit dem Rubin-Preis, 1971 mit dem Naftali-Preis und 1982 mit dem Present Tense Award des American Jewish Committee ausgezeichnet. Im Jahr 1996 erhielt er den Israel-Preis, die höchste Auszeichnung des Landes, für Politikwissenschaft.
Avineri hinterlässt seine Tochter Maayan. Seine Frau Devora (Nadler) Avineri starb im Jahr 2022.
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Shlomo Avineri
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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 5. Dezember 2023