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Zum Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung - und was daraus geworden ist (Teil 1)

Rolf Gössner


Mit einem harmlos wirkenden Statistikvorhaben erzielten staatliche Planer in den 1980er Jahren der alten Bundesrepublik wider Willen ungeahnte gesellschaftliche Breitenwirkung: mit der berühmt-berüchtigten Volkszählung. Da alle Haushalte der Republik laut Volkszählungsgesetz gezwungen waren, hieran teilzunehmen, lief es auf die Erfassung der gesamten Bevölkerung hinaus – mithilfe von Tür-zu-Tür-Befragun­gen und elektronischer Datenverarbeitung.


Nicht zuletzt aus diesem Grund war dieses staatliche Vorhaben geeignet, das Bewusstsein der Bevölkerung zu sensibilisieren und den Massenprotest zu beflügeln. Unterschiedlichste gesellschaftliche Kräfte fanden sich zu Bürgerinitiativen zusammen, um sich zu informieren, darüber aufzuklären und den Protest zu organisieren. Es waren ohnehin Zeiten erstarkender politisch-sozialer Protest- und Widerstandsbewegungen, wie etwa der Anti-Atomkraft- oder der Friedens­bewegung. Und so wirkte auf diesem widerständigen Hintergrund die Volkszählung wahre Wunder und erhitzte die Gemüter der damaligen Zeit bis hinein ins konservative Bürgertum.

Zum ersten Mal begannen damals unzählige Menschen zu erahnen, dass nicht allein soziale, politische oder gar kriminelle „Außenseiter“ Subjekte staatlicher Erfassungs- und Kontrollbegierde sein können, sondern auch sie selbst mit all ihren normalen Alltagsleben und „abweichenden“ Verhaltensweisen. Die detaillierten Fragen nach Ausbildung und Studium, Beruf und Erwerbstä-tigkeit, Arbeitsstelle und Arbeitsweg, Einkommen und Familienstand, Wohnungssituation und Miethöhe, Kinderbetreuung und Mobilität, Finanzen und Freizeit wurden jedenfalls rasch als Angriff auf Privatsphäre und Persönlichkeitsrechte empfunden. Zwar wurde den zu Befragenden per Gesetz Anonymität zugesichert, doch sollte es den Verwaltungen gleichwohl gestattet sein, die erhobenen Daten mit ihren Einwohnermelderegistern hinsichtlich Namen, Anschriften, tatsächlichen Wohnsitzen, Geburtsdaten, Konfessionen und Staatsangehörigkeiten abzugleichen. Die versprochene Anonymität schien damit jedenfalls mehr als zweifelhaft.

Aus diesem Gefühl eigener Betroffenheit begann sich eine wahre Datenschutzbewegung zu entwickeln: Zahlreiche Volkszählungsboykott-Initiativen schos¬sen aus dem Boden, massenweise versammelten sich Betroffene in Riesensälen und Stadthallen, um sich informieren zu lassen und zu debattieren. An etlichen dieser Initiativen und Großereignisse habe ich selbst aktiv mitgewirkt – just in der Anfangsphase meiner Berufstätigkeiten als Rechtsanwalt, Publizist und Referent. Die personenbezogene Nachfrage wurde insbesondere dadurch befördert, dass in jener Zeit mein erstes Buch „Der Apparat. Ermittlungen in Sachen Polizei“ (Köln 1982), das ich zusammen mit dem damaligen Wallraff-Mitarbeiter Uwe Herzog verfasst hatte, zum Bestseller wurde. Die vielen besorgten Fragen, die uns seinerzeit erreichten, drehten sich insbesondere um staatliche Überwachungsmöglichkeiten, Datenaustausch und –missbrauch. Sie gingen auch weit über den konkreten Anlass der Volkszählung hinaus und zeugten nicht selten von mehr oder weniger diffusen Ängsten vor fortschreitender Computerisierung, Verdatung und Kontrolle. Kurz: vor dem drohenden „gläsernen Bürger“, also vor zunehmender „Durchleuchtung“ der Menschen und ihres Verhaltens. 

 
Wir befanden uns schließlich, was wir seinerzeit nur erahnen konnten, am Beginn einer neuen Ära: auf dem Weg in eine moderne Informationsgesellschaft, die sich mit der beschleunigten digitalen Durchdringung von Staat und Gesellschaft herauszubilden begann und allmählich sämtliche Lebensbereiche tangierte. Die enormen Fortschritte und Vorteile einer solchen technologischen Entwicklung waren angesichts der ungewissen Entwicklungs- und Veränderungspotentiale und all ihrer problematischen bis gefährlichen Nebenwirkungen von starken Umwälzungs- und Zukunftsängsten begleitet. Was die gefährlichen Nebenwirkungen anbelangt: vollkommen zu Recht, wie wir mittlerweile längst erfahren mussten.

Doch trotz Widerstandsgeistes und Bereitschaft zum Zivilen Ungehorsam gegen die Volkszählung und gegen die damit verbundenen Risiken: Die Bewegung fokussierte sich immer mehr auf die bange Frage „Was tun, wenn der Zähler zweimal klingelt? Was tun, wenn im Falle der Verweigerung Zwangsgelder, Erzwingungshaft oder Ordnungswidrigkeitsverfahren drohen?“ Und sie degenerierte damit in weiten Teilen still und leise zu einer bloßen Rechtshilfebewegung, die das Große und Ganze, also die staatlichen Ausforschungs- und Kontrollfunktionen und ihre gesellschaftlichen Folgen allmählich aus dem Blick zu verlieren drohte.
 
Und dennoch lieferte diese außerparlamentarische Opposition die kritische Grundstimmung, Einschätzung und Dynamik für eine erfolgreiche juristische Gegenwehr: Zahlreiche Verfassungsbeschwerden führten zu dem berühmten und wegweisenden Volkszählungsurteil, mit dem das Bundesverfassungsgericht am 15. Dezember 1983 (Az. 1 BvR 209/83) die Vollerfassung der Bevölkerung und das zugrunde liegende Volkszählungsgesetz wegen Verfassungswidrigkeit weitgehend kippte. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich wenige Tage vor der gerichtlichen Aussetzung der Volkszählungsdurchführung während einer Pressekonferenz der Fraktion „Die Grünen“ im Bundestag nochmals eindringlich vor dieser Art von Datenerfassung gewarnt hatte und deren Boykott begründete: ein Statement, das die „Tagesschau“ zu bester Sendezeit ausstrahlte mitsamt der abschließenden Mahnung: „Es ist fünf Minuten vor 1984“ – mit Bezug auf George Orwells dystopischen Roman „1984“, der in jener Zeit viel gelesen und zitiert wurde.

Mit dem Volkszählungsurteil wird der Datenschutz erstmals zum neuen Grundrecht gekürt: das Grundrecht auf „informationelle Selbstbestimmung“ als besondere Ausprägung des Persönlichkeitsrechts (Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz) und der unantastbaren Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG). Danach kann jeder Mensch grundsätzlich selbst über Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten entscheiden. Seitdem gilt jede personenbezogene Datenerhebung, -speicherung, –verarbeitung und –verwendung als Eingriff in dieses Grundrecht und benötigt eine gesetzliche Rechtsgrundlage. In dieses Grundrecht durfte also fortan nur aufgrund bereichsspezifischer Gesetze, im überwiegenden öffentlichen Interesse und unter Beachtung der verfassungsmäßigen Verhältnismäßigkeit eingegriffen werden.

Wesentliche Leitsätze des Urteils, das weit über die Volkszählung hinaus Bedeutung hat, sind auch heute noch hoch aktuell. Deshalb seien sie hier kurz in Erinnerung gerufen: „Wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffenden Informationen in bestimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt bekannt sind, und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einigermaßen abzuschätzen vermag, kann in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zu planen oder zu entscheiden.“ „Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß. Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen…“

„Wer damit rechnet, dass etwa die Teilnahme an einer Versammlung oder einer Bürgerinitiative behördlich registriert wird und dass ihm dadurch Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte (Art. 8, 9 GG) verzichten.“ „Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist. Hieraus folgt: Freie Entfaltung der Persönlichkeit setzt unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung den Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten voraus.“

Nachdem die Volkszählung 1983 für weitgehend rechts- und verfassungswidrig erklärt worden war, fand sie 1987 auf neuer, nun verfassungskonformer Rechtsgrundlage statt. Es war die letzte  „Vollerfassung“ in der Bundesrepublik – ebenfalls begleitet von zahlreichen Protesten, Bürgerinitiativen und Verweigerungsaktionen mit Parolen wie "Politiker fragen – Bürger antworten nicht", „Lasst Euch nicht erfassen“, „meine Daten könnt ihr raten“ oder: „meine Daten gehören mir“. Etliche Verweigerungen wurden mit Zwangs- und Bußgeldern sanktioniert und Boykott-Initiativen von Verfassungsschutz Behörden unter Beobachtung gestellt.

Drei Jahre nach dieser Volkszählung und sieben Jahre nach dem Volkszählungsurteil als Meilenstein in der Geschichte des Datenschutzes folgte dann 1990 ein neues Bundesdatenschutzgesetz, das die verfassungsgerichtlichen Vorgaben weitgehend berücksichtigte. Dieses Gesetz ebnete fortan auch dem „Zensus“, also einer Teilzählung anstelle der zuvor üblichen Vollerfassung den Weg: so dem EU-weiten Zensus 2011 und dem letzten Zensus 2022. Mit Haushalte-Befragungen bei rund 10 Prozent der Bevölkerung soll alle zehn Jahre ermittelt werden, wie viele Menschen hierzulande leben, wie sie ausgebildet sind, wohnen und arbeiten etc. Um Ergebnisse für ganz Deutschland zu erhalten, werden diese Daten mithilfe statistischer Verfahren auf die gesamte Bevölkerung hochgerechnet. Damit sollen laut Bundesinnenministerium Fragen wie „Gibt es genügend Wohnungen? Brauchen wir mehr Schulen, Studienplätze oder Altenheime? Wo muss der Staat für seine Bürger:innen investieren?“ beantwortet werden, um den Planungsbedarf zu ergründen.
 
Zurück zum Volkszählungsurteil von 1983 und wie es weiterging: Diese bahnbrechende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts führte in der Folgezeit, anders als erwartet, nicht etwa dazu, den wuchernden Datenwildwuchs in allen möglichen staatlichen, kommerziellen und privaten Bereichen zu zügeln. Er wurde eher übersichtlicher und effizienter ausgestaltet und dann mit zahlreichen Gesetzesgrundlagen rechtlich abgesichert, wie es das Urteil ja verlangt. Tatsächlich kam es zu wahren Legalisierungswellen, mit denen immer mehr Eingriffs-, Überwachungs- und  Datenübermittlungsbefugnisse verrechtlicht wurden – besonders für Polizei und Geheimdienste des Bundes und der Länder (inklusive etlicher verfassungswidriger Regelungen). Letztlich sehen wir uns angesichts der digitalen und sicherheitsstaatlichen Entwicklung mit der Gefahr einer Unterhöhlung des Grundrechts auf Informationelle Selbstbestimmung konfrontiert, die auch verfassungsgerichtlich nur unzureichend gebannt werden kann. Dabei zeigte sich deutlich: Die Volkszählung der 1980er Jahre war wirklich harmlos gegen das, was uns seitdem mit der rasanten Entwicklung der modernen Informationsgesellschaft und der wachsenden digitalen Kontroll- und Überwachungsdichte im öffentlichen und privaten Raum drohte: nämlich ein präventiver Sicherheits- und Überwachungsstaat sowie eine kommerzielle Kontrollgesellschaft.

Im Zuge dieser technologischen Entwicklung haben sich auch die persönlichen Überzeugungen und Verhaltensweisen von Nutzern und Betroffenen gewandelt: Sie nutzen die neuen Techniken und Innovationen intensiv und oft, aber auch oft recht freizügig und naiv – ohne sich groß um die damit verbundenen Gefahren des Überwachungs- und Kontrollpotentials zu scheren. Das Datenschutzbewusstsein scheint angesichts der Abstraktheit virtueller Bedrohung rapide zu verkümmern, ebenso die Achtung vor der eigenen und fremden Privat- und Intimsphäre – ganz besonders
im Umgang mit „sozialen“ Netzwerken wie Facebook, Instagram & Co. Im Laufe der Entwicklung der Informationsgesellschaft haben sich regelrechte Datenkraken im privat-kommerziellen Bereich und im Öffentlichen Dienst herausgebildet. Und zwar mit einer ungeheuren Eingriffsmassivität und –intensität. Im Gegensatz zur Volkszählung und zum Zensus, die nur eine Augenblicksaufnahme darstellen, ist längst die permanente Erfassung von Daten über alltägliche Lebensvorgänge alltäglich geworden – etwa mittels unzähliger Überwachungskameras oder Verkehrsdaten, die u.a. bei Telekommunikation, Onlineshopping und der gesamten Internetnutzung anfallen. Die meisten Menschen hinterlassen pausenlos Datenspuren, die personalisierte Daten- und Persönlichkeitsprofile sowie Rückschlüsse auf ihr Surf- und Konsumverhalten ermöglichen, letztlich auf ihr gesamtes berufliches und privates Leben.

Wohl auch angesichts dieser weiteren Entwicklung hob das Bundesverfassungsgericht 2008 abermals ein neues Grundrecht für das digitale Zeitalter aus der Taufe: das „Grundrecht auf Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme“ – kurz: „Computergrundrecht“ genannt, das jedoch seither in der Praxis und per Gesetz ebenfalls immer wieder stark eingeschränkt worden ist. Auch hiergegen laufen wegen mutmaßlicher Verfassungswidrigkeit etliche Verfassungsbeschwerden.

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Info:
Veröffentlicht in „OSSIETZKY“. Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
   Nr. 1-2024 v. 13.01.2024 https://www.ossietzky.net/zeitschrift/