Daphne Geismar schreibt von ihrer Familie, die von den Nazis in Holland entrechtet wurde, Literatur zum Auschwitzgedenktag, 27. Januar, Teil 4
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Dramatisch kann man die Vorgeschichte zu diesem, übrigens im DIN A 4 Format so schön ausgestalteten Buch nennen. Denn erst 64 Jahre nach dem Verstecken der Niederschriften von Erwin Geismar, kurz bevor er in Auschwitz vergast wurde, sind die Papiere entdeckt worden, die zusammen mit anderen Unterlagen der Familie De Zoete-Geismar die Grundlage dieses Buches sind. Gleich zu Beginn werden auf großformatigen Schwarz-Weiß Fotos die erzählenden Personen vorgestellt.
Das ist das das Ehepaar Chaim & Fifi de Zoete mit ihren drei Töchtern, ein wundervar harmonisches Familienbild. Auf den folgenden Seiten dann die drei Töchter einige Jahre drauf noch immer kleine Mädchen, aber nicht mehr Kleinkinder. Lachend. Lebenslustig.Nathan Cohen ist der nächste, ein staksiger Junge mit kurzen Hosen und weißem Hemd mit Krawatte und David Geismar mit seinem Großvater Max, der im edlen Nadelstreifanzug was hermacht, was auch für den Jungen gilt, der ebenfalls zum weißen Hemd Kravatte trägt. Und dann kommen noch Erwin Geismar mit seiner Frau Grete, die neugierig, ja mit Erwartung direkt in die Kamera blicken. Das sind Fotografien, die sofort ein Interesse und eine Wärme gegenüber den schreibenden Personen erzeugen.
Im Vorwort betont Robert Jan van Pelt, daß es ihm genauso ging, daß die schöne, ja liebevolle Ausstattung ihn begeisterte, aber im Unterschied zur Rezensentin konnte er auch in den Texten das wiederfinden, was ihm das Wichtigste ist. Der spezielle Ton niederländischer Juden, der ein völlig anderer sei, nicht nur in Abgrenzung zu deutschen Juden, sondern gegenüber denen aus dem Osten. Sie erinnern ihn an die eigene Familie, an die Großeltern, Eltern, Onkel und Tanten. Und er betont, daß die Stellung der niederländischen Juden eine völlig andere sei, nämlich positiv herausgehobene gegenüber der Akzeptanz im übrigen Europa Richtung Osten. Aber auch in Frankreich und England. Im übrigen seien die Niederlande damals quasi verschlafen gewesen und hätten am industriellen Aufbruch seit dem 19. Jahrhundert und einer Modernisierung nicht teilgehabt. Das ist für mich, die ich viel über die Geschichte Europas kenne, dennoch neu, was sicher daran liegt, daß die Niederlande geschichtlich Jahrhunderte vorher für die Geschichte interessant waren, damals nämlich als sie unter spanischer Vorherrschaft standen, was sich dramatisch dann im "Abfall der Niederlande" änderte, wie Friedrich Schillers geschichtliches Werk heißt, dem er das Drama Don Carlos folgen ließ.
So schreibt van Pelt:"Die holländische Wirtschaft beruhte zu dem Zeitpunkt immer noch auf Handel und einem starken Agrarsektor, wie schon im 17. Jahrhundert, das als das Goldene Zeitalter in die Geschichte einging. Sie war ebenfalls abhängig von dem Reichtum, den ein riesiges Kolonialreich erwirtschaftete, dessen Mittelpunkt Niederländisch-Indien bildete (seit 1949 Indonesien). Dieses Gebiet trug nicht nur zum holländischen Wohlstand bei, sondern prägte auch die holländische Vorstellungskraft und verlieh einem sonst gleichmütigen Geist eine romantische, orientalisch angehauchte Note." Den Ersten Weltkrieg verschliefen die Holländer, es ging sie nichts an und so hatten sie auch nichts mit den Ergebnissen der Umwälzungen der Kriegsnationen zu tun, die zum Umbrüchen der jeweiligen Gesellschaften führten. Von der Weltwirtschaftskrise dagegen waren die Niederlande genauso betroffen, allerdings wurden dort, das betont der Verfasser, nicht die Juden für schuldig erklärt. Der Antisemitismus, schreibt er, nahm gegenüber Frankreich und Deutschland damals nicht zu. Das führt er auf Calvin und die Calvinisten zurück, die eher, also anders als andere christliche Länder, auf das Alte Testament zurückgriffen und sogar vielfach Hebräisch lernten, um die alten Schriften lesen zu können, was Judennähe und Judenakzeptanz bedeutete. Wichtig war auch die Verbindung zu Juden aus Portugal, von denen sich viele in Amsterdam niederließen, was zum Jerusalem des Westens wurde, denn Amsterdam hatte damals die größte und sichtbarste jüdische Gemeinde der Welt, auch mehr als im österreich-ungarischen Lemberg (Lwów, Lwiw, Ukraine) .
Diese Ausführungen sind so interessant, daß wir noch immer bei ihnen verweilen. Denn detailliert geht van Pelt auf die gesellschaftliche Situation ein und führt als Begründung für die spezifische niederländische Lage eine gewisse Absonderungen aller Gruppen und auch Abschottung und damit eine gewisse gegenseitige "Gleichgültigkeit zwischen den großen religiösen und politischen Gruppen", die sich gegenseitig in Ruhe ließen, weil jeder einen Teil abbekam. 1933 gab es 115 000 Menschen, "die sich selbst als jüdische Niederländer bezeichneten. " Das waren nur 1, 5 Prozent der Bevölkerung. Im Mai 1940 änderte sich alles. Die Deutschen und das Zwanzigste Jahrhundert drang in die Niederlande ein.
Natürlich wäre es viel dramatischer, die Geschichte der Schublade, die nun folgt, im Detail aufzubereiten. Aber wir bringen nur das Ergebnis, daß Daphne Geismar, die in den USA zu Hause ist, aufgrund der Unterlagen aus Israel auch in den USA eine nie geöffnete Schublade auftut, die zuvor nicht geöffnet wurde und ebenfalls schriftliche Zeugnisse und Fotos enthielten. Das alles führte zusammen mit weiteren Aufzeichnungen zu diesem Buch, wobei der Übersichtlichkeit wegen ein HINWEIS FÜR DIE LESER erfolgt, denn die vielen Mitschreiber, neun Hauptschreiber und Nebenstimmen und Daten und schätzte Daten.
Das kann man unmöglich inhaltlich wiedergeben, aber man kann die Form loben, denn es wird so viel Sinnlichkeit geboten, wie möglich ist. Das sind Postkarten und eben die vielen Fotos, wobei die Einzelschicksale alle in VORHER, GEFANGEN, VERBOTEN, GETRENNT und UNSICHTBAR fpr die einzelnen Personen und ein DANACH sowie ZUM GEDENKEN folgt. Das geht unter die Haut und man wird insgeheim Teil dieser Familien, die so mensschlich nah geschildert werden.
Das ist ein ungewöhnliches Buch, das einem ans Herz geht.
Foto:
©Umschlagabbildung
Info:
Daphne Geismar, Unsichtbare Jahre. Die Geschichte einer niederländischen Familie während des Holocaust, btb 2022, Originalausgabe 2020 Boston,
ISBN 978 3 442 75988 0