Yves Kugelmann
Hamburg-Berlin (Weltexpresso) - «Aufstehen gegen rechts! Jetzt! Alle!» steht in Großbuchstaben auf einem grossen Panel an der Frontseite des Hamburger Schauspielhauses. «Haben Sie einen Groschen?» fragt der etwa 45-jährige großgewachsene Mann vor dem Eingang gegenüber dem Hauptbahnhof. Eine ältere Dame sagt lächelnd: «Das ist aber schon länger her, junger Mann» und zückt das Portemonnaie. Es ist viel Betrieb vor dem Bahnhof. Menschen laufen mit Postern in Richtung Kundgebung, andere kommen gerade zurück und berichten, wie diese wegen zu großen Zulaufs aufgelöst wurde. Tausende laufen vor den Rathaus und manifestieren vor dem imposanten Gebäude gegen die AfD.
Diese hat mit der kurzfristigen Ansetzung eines Plenartermins erreicht, dass auf dem Rathausplatz keine Kundgebung bewilligt wurde und somit auf dem Jungfernsteg rund ums Alsterbecken stattfand. Die Hamburger Kundgebung mache den Auftakt in Deutschland, nachdem die investigative Recherche des Netzwerks Correctiv die Republik zuerst unter Schock, dann in Empörung und schließlich in Aufruhr versetzte. Die aufgedeckten Treffen zwischen Rechtsextremen und Mitgliedern der vom Verfassungsschutz unter Beobachtung stehenden Partei, die publizierten Pläne über geplante «Remigratoin» bzw. millionenfachen Transfer von Menschen mit Migrationshintergrund sowie Einblicke in identitäre, reichsbürgerliche und völkische Netzwerke waren der Auslöser für eine Welle von Kundgebungen in über 90 Städten Deutschlands.
Genau zwölf Monate nach der ersten Kundgebung von Israeli gegen die im Januar 2023 verabschiedete Koalition einer rechtsextremen Regierung in Israel hat sich in Deutschland eine Oppositionsbewegung zusammengefunden, die vielleicht so eine wie in Israel werden könnte mit wöchentlichen landesweiten Kundgebungen. Am Abend, beim Besuch von Freunden, sitzt eine Runde von Menschen in der Küche beim Abendessen, umgeben von Fotos der Zeitgeschichte: Zweiter Weltkrieg, Holocaust, Kommunismus und deutsche Geschichte. Das typische Backsteinhaus im Westen der Stadt hat Tradition. Es war das Sommerhaus der Klavierbauer-Familie Steinway gewesen. Das ist längst Geschichte, der Steinway-Flügel im Salon erinnert eher zufällig daran.
Am Tisch erzählt eine Südafrikanerin von der Freiheitsbewegung unter der Apartheid, wie sie als Weiße unter der ethnischen Trennung der Bevölkerung aufgewachsen ist, wie sie den Fall der Mauer in Deutschland wahrgenommen hat. Es wird ein langer Abend, bald kommt das Gespräch auf die Situation in Israel, die Wahlen in den USA und immer mehr kontextuiert sich Deutschlands aktuelle Debatte rund um den Aufstieg der AfD. Er findet unter den Augen aller statt. Doch wie gefährlich ist er? Ist das langsame Erwachen der Deutschen aus den verschiedenen Wintermärchen im Angesicht der aliberalen, Demokratie feindlichen Kräften in Deutschland zu spät oder der Alarmismus vor faktischen Tendenzen zu groß? Schließlich geht es Schlag auf Schlag. Die Parteiengelder für die rechtsextreme Partei NPD sollen verboten werden. Der ehemalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz und CDU-Mitglied Hans-Georg Maassen und die Werteunion wollen als Partei bei Wahlen antreten. Am Wochenende geben Medienrecherchen immer tiefere Einblicke in die rechtsextremen Netzwerke Deutschlands. Hochrechnungen über mögliche Gewinne der AfD bei Landtagswahlen alarmieren die Menschen auf der Straße.
Beim Gang an der Spree Richtung Brandenburger Tor leuchtet am frühen Sonntagabend die gläserne Kuppel des Reichstags und die deutschen Flaggen wehen im starken Wind. «BE gegen rechts» steht in großen gelben Lettern auf schwarzem Untergrund am Berliner Ensemble. Unter den Linden bewegen sich Tausende über den Pariser Platz durchs Brandenburger Tor. Die Polizei hat die Strasse vom 17. Juni für Demonstranten freigegeben. Es werden immer mehr. Im Hintergrund leuchtet die Siegessäule. Parallel demonstrieren in München Hunderttausende, in Stuttgart ist die Innenstadt vollgepfercht. Die Republik in Aufruhr und «Nie wieder, ist jetzt» auf den Plakaten bekommt eine neue Bedeutung.
Waren es wenige Tausend Demonstranten in den letzten Wochen, die gegen den Antisemitismus im Nachgang zum Gaza-Krieg nach den Massakern der Hamas in Israel auf Deutschlands Strassen ein Zeichen setzten, sind die Dimensionen nun ganz andere. Der Aufstand gegen rechts ist auch einer gegen Antisemitismus, doch mit anderer Kausalität. Die einen fragen sich, ob direkter Antisemitismus gegen Juden, in Deutschland zu wenig beachtet wird, die anderen, ob letztlich die Reaktionen auf den Strassen dann eben doch mehr Israel als Juden meinte. Und wiederum andere sehen darin eine unmögliche Trennung.
Tags darauf steht Frankreichs Präsident Emmanuel Macron für den Staatsakt zum Gedenken an den verstorbenen Wolfgang Schäuble am Rednerpult im Bundestag. Eine flammende Rede letztlich auch zur europäischen Sicherheitsarchitektur, die immer mehr bedroht ist und im laufenden Wahljahr vor einer neuen Bewährung steht. Nach Jahren, in denen immer wieder auf die Geschichte, den Wandel Europas zurückblickt wurde, wird sie spätestens seit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine und den aktuellen Entwicklungen in vielen Ländern Europas miterlebt. «Nie wieder, ist jetzt» heißt auch, die Geschichte der Demokratie im Wandel ist eine, die von der Mehrheit gemacht und verantwortet wird. Die Menschen auf Deutschlands Straßen sind vielleicht noch keine Mehrheit, doch viel mehr, als das Schlafwandlertum das letzte Jahr, al
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 24. Januar 2024s widerstandslos zugesehen wurde, wie Höcke und Konsorten ganz offen ankündigten, was sie für Deutschlands Zukunft planen.
An diesem Montag wird das dann in einer Pressekonferenz der AfD-Co-Vorsitzenden Alice Weidel nochmals klar. Sie, die immer als moderatere Variante des aufgelösten «Flügels» der AfD gesehen wurde, keift in die Kameras mit der Umdrehlogik von Fakten, wie sie die Rechten weltweit zur Brillanz getrieben haben. «Stasi-Methoden» würden gegen die demokratische Partei angeführt, die Behauptungen über AfD-Pläne in der Presse seien allesamt falsch – um dann wieder zu bestätigen, dass die «Remigration» gemacht werden müsste. Der US-Präsident Donald Trump hat seit 2016 die Schleußen für die Agitation «demokratischer» Rechtsextremer weltweit geöffnet und eine demagogische Rhetorik salonfähig gemacht, die brandgefährlich geworden ist, und langsam wird klar: Rechts wird immer rechtsextremer – Begriffe müssen neu justiert werden, da rechts-links längst nicht mehr die Matrix für das Gleiche mit anderen Vorzeichen ist. Der Kampf gegen rechts, gegen Antisemitismus von allen Seiten, fällt zusammen mit dem internationalen Holocausttag und zeigt, dass Erinnerung Realität nicht verdrängen soll. Geschichte ist jetzt.
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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 26. Januar 2024
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.