deutscholandisraelDAS JÜDISCHE LOGBUCH Anfang Februar 

Yves Kugelmann

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Die Sicherheitsmaßnahmen im Jüdischen Museum in Frankfurt sind symptomatisch für die Zeit und die Hürde zum Einlass noch höher. Doch wie wird die der Aktualität geschuldete Reaktion nicht zur Normalität? Zu lange haben alle zugeschaut, bis die Barbarei vom 7. Oktober diesem tatenlosen Zuschauen, dem jahrelangen Missbrauch des Nahostkonflikts ein jähes Ende gesetzt hat, mit der schlimmstmöglichen Wendung, die noch schlimmer werden könnte. Der Krieg in Nahost ist nicht zu Ende. Die Massaker sind weit über das Konfliktgebiet hinaus wie ein Keil in die Gesellschaften gestoßen worden.

Der artikulierte Antisemitismus ist angestiegen, die Straße reagiert und die sozialen Medien explodieren; die internationale Gemeinschaft im «Westen» hat sich mit Israel solidarisiert, der «globale Süden» steht an der Seite der Palästinenser. Alles mit ungewissem Ausgang. Das Bangen um die Freilassung weiterer israelischer Geiseln hält an, die Situation der Zivilisten von Gaza droht noch verheerender zu werden, die Bedrohung der Hizbollah an der Nordgrenze bleibt hoch. Die Hamas hat den Kampf der Bilder schon gewonnen, als die Massaker noch im Gang waren, und führt Israel vor der Weltöffentlichkeit vor. Wären da nicht die USA vom ersten Tag an als koordinierende Schutzmacht in den Konflikt eingetreten, wären die Kaskaden von Eskalationen womöglich unabsehbar geworden. Für Jüdinnen und Juden, Muslimas und Muslime wiederum ändert sich womöglich in diesen Tagen vieles, während sich die Welt an diesem Konflikt erneut spaltet.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen den Massakern der Hamas und fehlgeleiteten Diskursen darüber? Nein. Gibt es einen Zusammenhang zwischen den Massakern der Hamas und der Konspiration gegen Juden? Ja. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Faszination für Täter und falsche Diskurse? Ja. Doch was ist ein falscher Diskurs? Einer, der zum Ausgangspunkt der Debatte auf einem Fehler basiert und allenfalls Gefahr läuft, Teil einer Konspiration zu werden. Oft beginnt dies in der Negation der Dinge. Dass dies kein Abstraktum bleiben muss, zeigte sich tagtäglich im Umgang mit Sinti und Roma, die integraler Teil Europas sind und dennoch weitgehend eine diskriminierte, nicht verstandene, stigmatisierte Minderheit bleiben.

Diskurse rennen oft mit Anlauf gegen Wände, die vorher nicht gebaut, gesehen bzw. zu lange missachtet wurden. Der Diskurs über Israel, die Besatzung oder Diskriminierung der arabischen Minderheit wird nicht wahrer, wenn sie in den Kontext der Abschaffung von Kolonien oder der Befreiung von solchen gestellt wird. Denn der Staat Israel basiert auf einem Uno-Entscheid und nicht auf den vorangegangenen Okkupationen durch das Osmanische Reich oder die Engländer. Der Holocaust kann nicht von der Gründung Israels, sondern nur von «Mein Kampf» und den Vorläufern der auf die totale Vernichtung der Juden zielenden nationalsozialistischen Ideologie her erklärt werden. Die Besatzungspolitik Israels ist ein Fehler, aber kein Kolonialismus. Sie ist keine Konsequenz aus dem Holocaust, und ihre Beendigung auch nicht.

Die Dialektik des Postkolonialismus scheitert an der Existenz Israels. Denn Israels Kolonialismus ist keiner. Israel war nie eine jüdische Kolonie, nicht mal eine deutsche oder europäische in der Konsequenz der Uno-Entscheidung. Man mag Israel ablehnen, Israels Politik verabscheuen – aber muss man dies im vermeintlichen Gegenteil kaschieren? Die Relativierung Israels durch intellektuelle Konstruktionen bleibt ein Phänomen zwischen berechtigter Kausalität und einem chiffrierten Judenhass ebenso wie die Negation der Palästinenser durch Israel und jüdische Extremisten eine Lösung des Palästinakonflikts blockiert. Der Lokalkonflikt hat seit Jahren das Potenzial für ein globales Ausmass. Dass Israel sich selbst und auch die jüdische Gemeinschaft weltweit nie hätte in so eine Situation bringen lassen dürfen, wird sich zeigen, wenn die Berichte der Untersuchungskommission zum 7. Oktober die Ereignisse aufgearbeitet haben.

Mit seinen Thesen von «permanenter Sicherheit» und seinem «Katechismus der Deutschen» stellt der Historiker Anthony Dirk Moses die kausale und finale Singularität des nationalsozialistischen Vernichtungsprojekts an Europas Juden zur Disposition und Israel in einen postkolonialen Diskurs, der schiefgehen muss, weil seine Ausgangslage ebenso falsch ist wie seine Vergleiche: Die Apartheid von Südafrika wollte keine gleichen Rechte für Weiße und Schwarze, war eine ethnisch definierte Diskriminierung. Die Trennung von jüdischen und muslimischen oder christlichen Palästinensern innerhalb der besetzten Gebiete ist eine politische – auch wenn sie je länger, desto mehr eine ethnische werden könnte. Apartheid wie Kolonialismus greifen nicht bei der Beurteilung Israels. Der 7. Oktober war kein Holocaust, er war nicht mal ein Pogrom. Er war ein barbarisches Massaker, bei dem die Attentäter Menschen nicht nur töten, sondern vernichten wollten. Die Schändung der Leichen, die Vergewaltigung von Frauen und Kindern sind Kriegsverbrechen und Barbarei, die jene in Geiselhaft nehmen, mit denen das Blutvergiessen legitimiert wird. Die Bilder der Vernichtungen gleichen sich dort, wo die Opfer durch Täter dehumanisiert wurden, die mehr als töten.

Da schließt sich der katechetische Kreis, der vom falschen Ende her gedacht ist. Die deutsche Erinnerungskultur ist eine Erinnerungskultur der Deutschen. Die Historisierung der Schoah könnte eine universale sein. Das mit dem Katechismus-Verweis religiös aufgeladene Erinnerungskonzept steht einem solchen Projekt entgegen und konstruiert eine Ideologie, die das vielleicht gescheiterte Israel-Projekt in einen postkolonialen Kontext stellt, in dem es nie zu finden war, aus dem es aber durch diesen Diskurs nicht mehr herauskommt, wie der Zugriff vieler auf das Thema nicht auch zuletzt an der Documenta gezeigt hat. Die Schnittmenge von Antiisraelismus und Antisemitismus wird dort größer, wo Judenhass gemeint ist. Vertreter des sogenannten globalen Südens projizieren die eigene Kolonialerfahrung auf den Israelkonflikt, unter Negierung der jüdischen Erfahrung. Der Moses-Katechismus war ein Mittel zum falschen Zweck und eine intellektuelle Irrfahrt, die in diese Kerbe schlägt.

«Wer werden wir sein, wenn wir aus der Asche auferstehen?» fragte der israelische Schriftsteller David Grossman in einem Essay nach dem Ausbruch des neuen Krieges in Israel und Gaza. «Wer werden wir gewesen sein», wenn die Ereignisse bis zum Massaker und die Ereignisse, die dazu geführt haben, aufgearbeitet sein werden? Und wer ist «wir»? Die Opfer, die Angehörigen, die israelische, die jüdische, die palästinensische, die muslimische, die Weltgemeinschaft?

In seinem Essay «Das Schweigen nach dem Aber» stellt der muslimische Schriftsteller Navid Kermani das palästinensische Dilemma so dar: «Selbst diejenigen Palästinenser, die sich jetzt hinter die Hamas stellen, werden sich bald wieder fragen, was ihnen der bewaffnete Kampf gebracht hat außer Leid, Korruption und Unfreiheit. Und in der Generation nach Mahmud Abbas haben die Palästinenser sehr wohl Politiker, die glaubhaft der Gewalt abgeschworen haben. Der mit Abstand populärste, Marwan Barghuti, sitzt im israelischen Gefängnis und dürfte noch eine Rolle spielen, wenn eine künftige israelische Regierung nach einem Verhandlungspartner sucht. Es gibt nur eine einzige realistische Option für Israelis wie Palästinenser, mag man darüber reden oder weitere dreißig Jahre nicht. Sie heisst: Frieden.»

Ist Israel ein Kolonialstaat? Bei Moses ja. Sozusagen die ausgelagerte Schuld-Kolonie des singulären Zivilisationsbruchs. Doch in Herzls «Alt-Neuland» war der Staat Israel eine Vision für eine gerechte Gesellschaft für alle seine Bewohner. So weit ist es bis heute nicht gekommen. Das kann aber noch werden.

Der intellektuelle Diskurs über Nahost zeitigt seine Konsequenzen außerhalb der Eliten. Universitätscampusse sind zu regelrechten Kampfzonen geworden, die Massen auf allen Konfliktpositionen übernehmen weltweit isolierte Narrative und greifen auf den Konflikt über. Die jüdische Gemeinschaft fühlt sich bedroht und in einer historischen Herausforderung, die zu lange zu sehr von der Existenz eines jüdischen Staates abhängig gemacht worden ist. Denn auch dieser hat sich längst vom Herzl- zum brandgefährlichen kahanistischen Jabotinsky-Konzept gewandelt, dessen Vertreter immer radikaler werden, und formuliert die alte Kernfrage des Zionismus: Die lokale Bevölkerung in Palästina lehnt das Projekt weitgehend ab, dieses lässt sich daher nur gewaltsam umsetzen und hat kein Alternativkonzept gefunden. Die asymmetrischen Ausgangslagen zwischen Israel, den Nachbarn und den Feinden führte bisher nicht zu partizipialer Lösungssuche auf Augenhöhe.

In diesem komplexen Geflecht wird Israel kolonialisiert von ideologischen Diskursen und Übergriffen, die sich wie der postkoloniale zusätzlich zwischen die Menschen in der Region werfen, die eigentlich Teil eines Friedensprojekts sein wollten, mit der Vision auf ein Zusammenleben, das einst greifbar war und nun in weite Ferne gerückt erscheint. Die besetzten Gebiete sind eine Kolonie Israels geworden. Dass Kolonien zum Bumerang werden können, ist für Israel noch viel bedrohlicher als es für Großmächte jemals hätte sein können. In diesen Zeiten der Ungewissheit, in denen nicht klar ist, ob Willkür oder Pragmatik die nächste Wendung einleitet, wird allerdings eines noch deutlicher: Konfliktmanagement gibt es nicht. Dass da allerdings die amtierende Regierung Netanyahu künftige Kolonialisierung mit Besetzung des Gazastreifens, «Bevölkerungstransfer» und so fort anstrebt, wäre dann zynische Einlösung der eigentlich so absurden Postkolonialkritik.

Die Hamas hat die Palästinafrage auf die Weltagenda zurückgebombt und die arabische Gemeinschaft ebenso herausgefordert wie die westliche. Insofern kann das eine historische Chance werden oder zu einer Apokalypse biblischen Ausmaßes führen, während das Weltpublikum in die Brecht-Falle getappt ist: «Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.» Die Zuschauer sind wieder einmal betroffener als die Akteure. Doch eigentlich sind sie Komplizen geworden in diesem Konflikt. Komplizen, Extremisten auf allen Seiten, deren Eskalation immer wieder für sie aufgeht und für den Rest ein Chaos hinterlässt. Das Kolonie-Argument führt in eine wortreiche Sackgasse, welche die im Teilungsplan von 1947 beschlossene Zweitstaatenlösung negiert. Denn weder die Palästinenser noch die Israeli werden aus ihren Heimaten, aus Israel und Palästina verschwinden. Wenn die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek schreibt, «die Geiselnahme auch der unschuldigen Palästinenser, für deren Befreiung die Terroristen zu kämpfen behaupten, nimmt ihnen alles, was sie jemals erreichen könnten», dann ist auch klar: Nach der Barbarei gibt es keinen Ausweg, keinen Plan B, keine Alternative mehr zum Verhandlungstisch.

Foto:
©Deutschlandfunk


Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 2. Februar 2024
Yves Kugelmann ist Chefredaktor und Herausgeber der JM Jüdische Medien AG.