Bildschirmfoto 2024 02 17 um 23.23.54

Im Gespräch mit dem Historiker Stefan Keller, der Mechanismen einer Gesellschaft freilegt

Yves Kugelmann

Basel (Weltexpreso) - Der Historiker Stefan Keller hat ein Gutachten zum Thema «Davos und der Nationalsozialismus» für den Kurort geschrieben – im Interview kontextualisiert er die Debatte um das «Davos-Gate».

tachles: Im Sommer haben Sie ein Gutachten für die Stadt Davos abgeliefert, in dem Sie die Geschichte der Stadt im Kontext der NSDAP-Zentrale in Davos aufarbeiten. Kann solche historische Kontextualisierung bei aktuellen Problemen in der Gegenwart wie jetzt in der Debatte um das «Davos-Gate» helfen?
Stefan Keller: Ich versuche jeweils historische Vergleiche oder Gleichsetzungen zu vermeiden. Aber man sieht natürlich Strukturen oder Reflexe, die sich unter unterschiedlichen Bedingungen wiederholen. Dazu ist der Blick in die Geschichte nützlich, auch um die Gegenwart klarer zu sehen.


Davos und die Juden sind seit Montag weltweit in den Schlagzeilen. Ein Schlittenverleih wollte nicht mehr an Juden vermieten. Geht’s hier um Mangel an historischem Bewusstsein, Antisemitismus, Überforderung?
Die Berichte in den Medien habe ich verfolgt. Davos ist ein Tourismusort und lebt als solcher von Offenheit und Vielfalt. Jetzt werden einzelne Gäste als Zugehörige einer Gruppe kategorisiert, die nicht «zu uns» gehöre. Gleichzeitig gibt man sich bei Ausgrenzungen ahnungslos und wollte angeblich gar nichts Böses! Dazu eine Erinnerung: Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Davos eine bedeutende antisemitische Bewegung gegen die Aufnahme von entlassenen Jugendlichen aus den Konzentrationslagern in ein ehemaliges Nazi-Kurhaus. Im Sommer 1946 wurde in Veranstaltungen und mit Flugblättern gegen diese angeblich «kulturfremden» Menschen protestiert. Es handelte sich um Kinder aus Vernichtungslagern, die vor dem Tod gerettet wurden und die man zur Erholung in die Berge schickte. Dieses Unverständnis gegenüber einer anderen Geschichte taucht auch in der gegenwärtigen Debatte auf.


Ihr Gutachten trägt den Titel «Davos und der Nationalsozialismus». Der Ort war die Zentrale der Nazis in der Schweiz. Nun fragt man sich, ob ein Touristenort heute noch mit dieser Vergangenheit konfrontiert werden muss, um die Probleme von heute zu verstehen?
Mein Auftrag war, zu beurteilen, ob die Geschichte von Davos im Nationalsozialismus genügend aufgearbeitet ist. Ich habe untersucht, welche Teile dieser Geschichte thematisiert wurden, welche nicht, und wo also Lücken bestehen. Der aktuelle Konflikt geriet letzten Sommer in die Schlagzeilen, als das Gutachten bereits abgeliefert war.


Im Gutachten machen Sie unter anderem Ressentiments gegenüber Juden schon in den Kriegsjahren aus.
Davos war damals ein Nazinest. Es gab dort viele Deutsche, sie wurden nach 1933 gleichgeschaltet. Der NSDAP-Landesgruppenleiter Wilhelm Gustloff war in Davos stationiert, bis er von David Frankfurter 1936 erschossen wurde. Aber auch nach Gustloff blieben die Nazis; das hat den Ort historisch geprägt. Als der Krieg vorbei war, sagte man zu schnell: Die Nazizeit ist jetzt erledigt, wir waren vielleicht etwas opportunistisch, aber hatten damit nichts zu tun. Es wurde zu wenig genau untersucht, welche Rolle die Behörden damals spielten, welchen politischen Freiraum gegen die Nazis sie gehabt hätten. Noch weniger untersucht wurde, wie sehr die Bevölkerung in Davos mit der NSDAP eigentlich sympathisierte.


Sie kommen im Gutachten zum Schluss, dass auch die Seite der jüdischen Menschen nicht untersucht wurde.
Man kennt fast nur die Täterseite. Wir wissen sehr viel über Gustloff und über die Nazikolonie. Aber kaum etwas über die Situation der jüdischen Flüchtlinge und der ansässigen Juden in Davos. Bekannt ist, dass dort 1919 ein jüdisches Tuberkulose-Heim gegründet wurde, dass es seit 1918 eine sehr kleine jüdische Gemeinde gab, die dann den Saal in diesem Sanatorium nutzen konnte. Die Tätergeschichte ist weitgehend aufgearbeitet, jene der Opfer weitgehend unbekannt.


Sie haben mit ihrem Buch «Grüningers Fall» von 1993 die Rolle des Polizeihauptmanns und Flüchtlingshelfers Paul Grüninger aufgearbeitet, was zu seiner Rehabilitation führte. Auch in Davos gab es Widerstand. Historische Aufarbeitung kann Realitäten verändern. Kann das auch im Falle Davos passieren?
Das kann ich mir vorstellen, und zwar indem man die Perspektive umdreht. Bei Grüninger habe ich den Fall aus Sicht der Flüchtlinge, also aus der Sicht von unten betrachtet. In Davos ist es dafür sehr spät. Es gibt keine Zeitzeugen mehr, die diese Zeit als Erwachsene erlebten. Wenn man die Geschichte aus der Perspektive der Betroffenen erzählt, zu denen natürlich auch die Bevölkerung gehört, verändert sich das Bild sehr oft, und es entsteht ein besseres Verständnis, für das, was wirklich passierte. Dazu muss man weg vom schnellen Verharmlosen, hin zur genauen Befragung der Quellen und zur Suche nach Widersprüchen: In welcher Situation befanden sich die einheimischen Bewohner von Davos? Wer hat sich wie verhalten? Da gibt es prägnante Figuren, die sich anders verhielten als andere und Widerstand leisteten. Eine imposante Figur war der jüdische Davoser Anwalt Moses Silberroth, Mitglied des Grossen Rates. Er spielte eine hervorragende Rolle bei der Bekämpfung des Nazitums in Davos und in der ganzen Schweiz. Doch über ihn gibt es noch nicht einmal eine Monografie. Ferner war da Silberroths Kompagnon Werner Stocker. Anwalt und später Zentralsekretär der Sozialdemokratischen Partei, er holte als Alpinist direkt Leute über die Berge aus dem besetzten Österreich und organisierte später von Zürich aus einen Schlepperring im Rheintal, um Menschen zu retten. Es gab den bürgerlichen Christian Jost, der ein armeenahes Widerstandsnetz aufbaute, über das man praktisch nichts mehr weiß.


Das Gutachten zeigt auf, dass es sehr viel Material gibt. Schon die Menge an Fussnoten mit Verweis auf Archivmaterial fördert das zutage.
Ja, es gibt viel Material, wenn man gräbt. Daher benötigte ich auch recht lange für die Recherche. Das Material ist weit verstreut und ich versuchte, es in meinem Exposé etwas zu bündeln. Der Davoser Landammann hat versprochen, dass nun eine Aufarbeitung in Auftrag gegeben werden soll.


Dennoch ist das Gutachten noch nicht publiziert. Davos lebt von vielen Mythen: Thomas Manns «Zauberberg», von der Kunst Ernst Ludwig Kirchners, von der Ermordung des NS-Landesgruppenleiters Wilhelm Gustloff, vom Lungenkurort. Wie schwierig ist es, Mythen zu durchbrechen und dann vielleicht das wahre Gesicht eines Ortes herauszuarbeiten?
Wenn man konkrete Geschichten erzählt und sich nicht zu sehr als Richter aufspielt, ist es vielleicht gar nicht so schwierig. Thomas Manns «Zauberberg» zum Beispiel: In Davos stiess der Roman auf grösste Feindschaft. Man fand, er zerstöre den Ruf von Davos und seinen Sanatorien. Das ging so weit, dass man seiner Tochter Erika Mann einen Auftritt des Kabaretts Pfeffermühle verbot mit der Begründung, schon der Vater habe Davos geschadet. Heute kann man sich Davos ohne den «Zauberberg» gar nicht mehr vorstellen. Etwas Ähnliches gilt vielleicht für den von Ihnen erwähnten Paul Grüninger in St. Gallen. Seine menschenfreundlichen Taten und seine darauffolgende Verfolgung und Verfemung gehören heute zum Allgemeinwissen, und er wird weitgehend positiv gesehen.


Anlass der aktuellen Debatte ist eine Art «clash of civilisations» zwischen ultraorthodoxen jüdischen Touristen und einem Teil der Behörden oder der einheimischen Bevölkerung.
Nun, Davos ist ein Touristenort und will es sein. Da kommen halt Fremde hin. In den dreissiger Jahren waren die «Ostjuden» Anlass für die Ablehnung durch Schweizer Behörden mit dem Vorwurf, sie seien nicht assimilierbar. Offenbar gibt es objektiv Konflikte, aber wenn man darauf mit pauschaler Verurteilung oder pauschaler Ausgrenzung reagiert, dann geht die Debatte mit Sicherheit in eine falsche Richtung.


Die Nazis haben Davos gefunden und nicht umgekehrt. Davos wird heute oft in den Kontext der NS-Zeit gesetzt und stigmatisiert. Antisemitismus gab und gibt es überall in Schweizer Bergorten. Unterscheidet sich Davos von anderen Orten oder macht die Geschichte den Unterschied?
Die Geschichten von Arosa oder St. Moritz habe ich nicht näher untersucht. Auch dort kam es bekanntlich zu Konflikten. Wenn nun die Situation von Davos aufgearbeitet wird, entsteht vielleicht ein neues Bewusstsein auch für die Probleme an anderen Orten. Davos wurde als Tourismusdestination von einem übrigens linksradikalen deutschen 1848er-Emigranten begründet. Er war hier Kreisarzt und entdeckte die lindernde Wirkung des Klimas für Tuberkulosekranke. Auf dieser Entdeckung beruht der ganze Aufstieg des Bergdorfes zur Alpenstadt. Davos ist sozusagen eine deutsche Erfindung oder Konstruktion, die auch stets viele deutsche Ärzte und Patienten anzog. Mit dem Aufstieg der Nazis kam das eine zum anderen.


Sie schreiben im Gutachten von der Zeit nach 1945 und benennen Lücken der Aufarbeitung. Kann man denn sagen, wie die Bevölkerung mit Kriegszeit später umgegangen ist und ob eine Verdrängung möglicherweise bis heute nachwirkt?
Das wäre eben auch ein Forschungsdesiderat: Wie hat die Bevölkerung damals gedacht, wie denkt sie heute? Die beträchtliche historische Literatur zu den Tätern lässt diesen Punkt weitgehend aus. Die lokalen Historiker haben sehr wichtige Arbeit geleistet, kommen aber manchmal zu schnell zu Rechtfertigungen oder Entschuldigungen. Und wie gesagt, das Verhältnis der einheimischen Juden zu den jüdischen Flüchtlingen, zu den einheimischen Juden fehlt ganz.


Das Gutachten ist im Moment eine Art «Geheimtipp» in der Schublade. Im März soll es eine Tagung geben. Was kann daraus resultieren?
Ein Auftrag für eine neue historische Aufarbeitung. Und ein offener Blick für die Geschichte. Viele Menschen mit ausländischen Wurzeln kamen wegen der Tuberkulose nach Davos. Sie waren zuerst Patienten und liessen sich dann in Davos nieder, auch Wilhelm Gustloff oder Moses Silberroth gehörten dazu. So sind viele Nazis, einige Linke, einige Juden nach Davos gelangt, und der Ort wurde dadurch für kurze Zeit zu einem Hotspot der Weltgeschichte. Eine interessante Geschichte, finde ich. Gäbe es darüber ein allgemeines Bewusstsein, würden vielleicht auch aktuelle Debatten anders geführt werden.

 
Foto:
©tachles

Info:
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 16. Februar 2024