Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos am 4. Juli 2024, Teil 2
Redaktion
Berlin (Weltexpresso) - Was hat Sie dazu veranlasst, einen Film über Abbé Pierre zu drehen?
Zusammen mit den Produzenten des Films dachten wir über ein mögliches Thema für einen Film nach. Dabei kamen wir auf Abbé Pierre zu sprechen. Diese Geschichte schien mir nicht aus dem Nichts zu kommen. Sie konnte an die Filme anknüpfen, die ich bereits gedreht hatte. Ich stelle mir immer wieder Fragen über den Sinn des Bösen und die Kraft des Lebens. Über die Konditionierung unseres Lebens. Warum diese Person Glück haben wird und diese nicht. Warum diese leiden wird und diese nicht. Sind Einsamkeit und Ungerechtigkeit unveränderbar? Reparieren wir das Böse, das uns ins Gesicht schlägt, oder verändern wir es? Spontan fielen mir Punkte ein, die mich „neugierig“ machten. Ich interessierte mich für den Abbé über die Ikone hinaus, die er darstellt, vor allem für seine revolutionäre Seite. Dann kamen auch Kindheitserinnerungen zurück, wie z.B. die Rührung, mit der mir ein Familienmitglied erzählte, dass es an einem Vortrag des Abbé teilnahm. Aber all das reichte nicht aus, um einen Film zu drehen. Bevor ich also schrieb, las ich zunächst alles, was ich finden konnte: Bücher, Artikel...
Und wann gelang es Ihnen, die Grundstruktur des Films zu finden?
Das nahm viel Zeit in Anspruch. Es dauerte sehr lange. So lange, dass sich die Produzenten, denen ich fast ein Jahr lang nichts Konkretes zu lesen gab, Sorgen machten. Denn alles, was ich las, war mehr oder weniger nur Hagiografie oder sogar Legende, die vom Abbé selbst oder seinen Verwandten geschrieben worden waren. Was mich und wohl auch die Zuschauer interessiert, ist die Frage, wie ein Mensch all das erreichen konnte, was der Abbé getan hat. Was ist in ihm vorgegangen? Wo ist er gescheitert? Hat er sich einsam gefühlt? Hatte er Angst? Zweifelte er? An welchem Punkt zerbrach er? Was ist passiert? Wie erlebte er all das? Hat er sich wieder erholt? Ich konnte nirgends Antworten auf diese Fragen finden. Ich wusste also nicht, wie ich über das bereits bekannte Symbol hinausgehen sollte. Was ich suchte, war ein authentischer, konkreter und realer Abbé Pierre. Keine Ikone. Keine Legende.
Und hier war Laurent Desmard (15 Jahre lang Privatsekretär des Abbé und Präsident der Foundation Abbé Pierre), den mir die Produzenten vorstellten, ausschlaggebend. Ich verbrachte sehr viel Zeit mit ihm. Er erzählte mir von Erlebnissen und Erinnerungen, die nicht in der „offiziellen Literatur“ stehen und die er, glaube ich, noch niemandem anvertraut hat. Er öffnete mir einen unglaublichen Schatz an Erinnerungen, Emotionen und Vertrautheit ... Er hat mir den intimen Abbé Pierre, seine Arbeitsweise und seine Ursprünge gezeigt und verständlich gemacht. Und ich habe angefangen zu schreiben, indem ich mich für den familiären Hintergrund, die Misserfolge und die Zweifel des Abbé interessierte. Ich verstand, was ihn bewegte und sah, wie das Kino seinen Platz im Werdegang dieses Sohnes einer wohlhabenden Familie finden kann, der plötzlich alles aufgab, indem er sich den Kapuzinern – einem der strengsten religiösen Orden – anschloss. Die Anfänge eines außergewöhnlichen Menschen, der scheitern wird. Als ob er den falschen Weg eingeschlagen hätte. Und der sich auf Wanderschaft begab, bis der Krieg, der Widerstand und dann die Begegnungen mit Lucie (Emmanuelle Bercot) und Georges (Michel Vuillermoz) alles veränderten. Die Begegnung mit Georges machte ihn direkt mit dem Elend bekannt.
Als ich die ersten Seiten schrieb, hallte all das in mir nach und ein Anfang der Geschichte schien sich abzuzeichnen: Der Abbé war ein leidenschaftlicher Mensch. Für das Leben. Für andere und hinsichtlich sozialer und emotionaler Bindungen. Im pathologischen Sinne ein hochsensibler Mensch. Ein Leidender und gleichermaßen ein Kämpfer. Er lebte ein Leben, das niemand wirklich kannte, das zwar von Güte und Kampf geprägt war, aber auch aus unglaublichen Rückschlägen, beunruhigenden Paradoxen, ständigen Zweifeln, Verschleiß und Überschreitungen bestand. Er war ein kleiner Mann, zerbrechlich wie Porzellan und gleichzeitig unzerstörbar, getragen von einer Mission, von der er wusste, dass sie niemals erfolgreich sein konnte, und die ein Jahrhundert unserer Geschichte überdauerte. Für mich zeichnete sich hier die Entstehung eines Filmepos ab und gleichzeitig die Möglichkeit, diese Geschichte aus einem einzigartigen Blickwinkel zu erkunden!
Nach dieser anfänglichen Zusammenarbeit mit Laurent Desmard, schrieben Sie dann das Drehbuch alleine weiter?
Ja, zunächst. Ich schreibe normalerweise eine erste Version, in der ich die Struktur festlege, und einen ersten Entwurf für die Dialoge erstelle. Das sind normalerweise 50-70 Seiten. Aber ich schreibe nicht gerne zu lange allein. Schon seit Jahren hatte ich den Wunsch, mit Olivier Gorce zusammenzuarbeiten. Ich dachte mir, dass dies das richtige Thema für ein gemeinsames Projekt sein könnte. Er war unter anderem Co-Autor von DER WERT DES MENSCHEN (2015) und STREIK (2018). Also ging ich zu ihm und meinte, es gäbe gute Vorzeichen für eine Zusammenarbeit, da er bereits in jungen Jahren eine Biografie über den Abbé verfasst hatte. Gemeinsam schrieben wir einen Film, der über die zwangsläufig etwas überwältigende Symbolfigur hinausgeht und den Menschen dahinter ans Licht bringt.
Der Filmtitel sagt alles: EIN LEBEN FÜR DIE MENSCHLICHKEIT. Aber wie selektiert man in einem 94 Jahre langen Leben, was man im Kinoformat erzählen soll?
Ich begann damit, eine Art Zeitleiste für sein Leben zu erstellen, bevor ich inhaltliche Entscheidungen traf. Sehr schnell wusste ich, dass ich nicht nur eine Episode, einen Moment, sondern sein ganzes Leben erzählen wollte. Denn was mich fasziniert, ist die Langlebigkeit dieses Mannes, seine ungebrochene Überzeugung über all die Jahre hinweg. Ich sah darin ein Epos, das es zu erzählen galt. Das Epos eines Mannes inmitten der kognitiven Störungen unserer Gesellschaft. Mein Lieblingsthema, aber diesmal aus einem einzigartigen Blickwinkel betrachtet, dem eines Alltagshelden inmitten der geistigen, sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fehlentwicklungen und des Menschenversagens bei der Erfüllung ihrer Aufgaben. Inmitten von Dramen und Tragödien, die leider immer noch aktuell sind. Abbé Pierre führte einen Kampf, der nicht gewonnen werden konnte, der aber als gänzlich verloren angesehen werden muss, wenn man ihn nicht führen würde. Das bewegt mich, weil es im Grunde das Thema fortsetzt, das all meine Arbeiten gemeinsam haben. Der Versuch, den Grund für das menschliche Elend zu erforschen, im poetischen und philosophischen und natürlich auch im politischen Sinne.
Aber wie soll man dann vorgehen, um nicht in die Hagiografie abzugleiten?
Dazu ging ich von der Zeitleiste aus, die ich erwähnte. Ich begann, die meiner Meinung nach, etwas weniger hervorstechenden Abschnitte in den Hintergrund zu rücken. Zum Beispiel seine Kindheit, auch wenn es ursprünglich in meinen Notizen eine ganze Passage in Lyon gab, in dem sein Vater ihn zu den Notleidenden mitnahm, was für ihn ein Schlüsselerlebnis war. Dann konzentrierte ich mich auf die Momente, in denen es um das ging, was ich zeigen wollte: einen Mann, der zweifelt. Ein Mann, der sich sehr auf andere verließ. Ein Mann, der keine große Klarheit besaß. Ein Mann, der gewissermaßen beim Gehen lernte, wie man ging. Darin schloss ich auch seinen Burnout, seine 18 Monate in einer psychiatrischen Klinik, die Polemiken mit ein. All das, was ihn im Grunde erbarmungslos menschlich machte. Alles, was sich von der rein ikonischen Perspektive abhob. Es war nicht einfach. Manchmal musste man gnadenlos sein, aber es war an dieser Stelle ein großer Vorteil, zu zweit zu schreiben. Wenn einer in der Hagiographie Schwäche zeigte oder sein Urteilsvermögen verlor, korrigierte ihn der andere.
Die Frage nach der Filmlänge stellt sich angesichts all dessen, was es zu erzählen gibt. Auch hier gilt es gnadenlos zu sein...
Die Idee war in der Tat, in ein sensorisches Projekt einzusteigen, das nicht wirklich länger als zwei Stunden dauern sollte. Dennoch sollte Spielraum für Länge, Emotionalität und bestimmte Sequenzen gelassen werden. Denn ich wusste schon beim Schreiben, dass sich das über den gesamten Film hinweg ausbalancieren lassen würde.
Die von Ihnen erwähnte sinnliche Wahrnehmung spiegelt sich auch in Ihrer Entscheidung wider, den Film mit einer Wüstenszene zu eröffnen. Warum haben Sie sich dafür entschieden?
Zum einen, weil der Abbé die Wüste liebte und in seinen Schriften viel davon spricht. Aber auch, weil dieser Moment den Anstoß für einen Film gab, in dem ich im Grunde nie von Religion, sondern vom Glauben sprechen werde. Das entspricht dem, was ich durch seine Schriften und die Aussagen seiner Angehörigen empfand. Ein hochsensibler Mensch, der jenseits von Gott an den Menschen glaubte, an etwas Metaphysisches. Er wollte sich in der Wüste wiederbeleben. Die energetische Kraft der Erde dort beruhigte ihn. Er sprach viel darüber und machte zahlreiche Fotos von der Wüste. Während der Vorbereitung und des Schreibens, ging ich in sein Zimmer, in die Gemeinden, in denen er wohnte und hatte zeitweise den flüchtigen und seltsamen Eindruck, ihn zu spüren, diesen Mann zu fühlen. Deshalb hatte ich den Wunsch, einen sensorischen Film zu machen, um das, was ich empfand, zu begleiten und zu vermitteln.
Wie arbeiteten Sie mit Ihrem Kameramann Renaud Chassaing zusammen, um diese Atmosphäre zu schaffen?
Dies ist der dritte Film, den ich mit ihm gedreht habe. Wir besprachen alles sehr frühzeitig. Ausgehend von meinen Recherchen baute ich ein künstlerisches Dossier auf. Ich versuchte, Beispiele zu finden, um Renaud bildhaft zu erklären, was ich im Kopf hatte. Im Laufe dieses Austauschs entschieden wir, ob wir dieses oder jenes Werkzeug oder diese oder jene Art des Bildausschnitts verwenden würden, in diesem Fall insbesondere die Verwendung von Lensbaby, einer besonderen fotografischen Optik, die man an einer Kamera anbringen kann und die es ermöglicht, die Schärfentiefe und die Unschärfe um die Hauptfigur herum zu verlagern und so eine Nähe zu ihr herzustellen. Dieser – sparsame – Einsatz der Veränderung der Tiefenschärfe ermöglicht es, die Aufmerksamkeit auf die Schärfe zu richten und gleichzeitig seltsamerweise von der Unschärfe angezogen zu werden. Wir haben auch viel daran gearbeitet, einen digitalen Plug zu erstellen, um das Bild in der Postproduktion noch mehr „vertiefen“ zu können. Für diesen sensorischen Aspekt habe ich mich auch auf Erzählungen meiner Großeltern gestützt, die das ständige Kältegefühl im berühmten Winter von 1954 miterlebt haben. Ich danke ihnen im Abspann. Für mich war es wesentlich, dass man diese Kälte auf der Leinwand spürt. Mit Renaud haben wir diesen Aspekt so verbildlicht, dass man dieses Gefühl auch abrufen kann.
Tauschen Sie sich auch über Filmreferenzen aus?
Meistens ist von Fotografien die Rede, z.B. von Aufnahmen von Joel Meyerowitz, Philip-Lorca diCorcia, William Eggleston oder Raymond Depardon. Wir sprechen auch oft über Maler oder Gemälde. Ich erzählte ihm viel von einem Gemälde von Rembrandt, das in Bezug auf die Verwendung von Hell-Dunkel meisterhaft ist. So seltsam es auch klingen mag, wenn wir über Filme sprachen, ging es um ... Western! Ich wollte an einigen Stellen diese Atmosphäre entstehen lassen, vor allem in den Szenen mit der Bande der „Emmaus“-Gemeinschaft. Wir sprachen z.B. auch viel über Robert Altmans McCABE & MRS. MILLER (1971).
Wie greift man ein so mythisches und dokumentarisches Ereignis wie den berühmten Aufruf von Radio Luxemburg im Winter 1954 auf, um ihn auf die Leinwand zu bringen?
Dies ist einer der Höhepunkte in der Existenz des Abbé und damit auch des Films. Dieser Moment passt zu Oliviers (Gorce) und meinem anfänglichen Wunsch, einen sehr aktuellen und modernen Film zu machen, der sich über die Dekonstruktion entfaltet. Das ist es, was in dieser Szene zum Tragen kommt. Ich wollte, dass man den gesamten Anruf hört, aber im Bild mit Rückblenden und Vorläufen, einer zeitlichen Dekonstruktion, spielt. Die große Frage für den Regisseur war nun, wo er die Gefühlsebene platziert. An welchem Punkt hält man sie zurück, an welchem lässt man sie ausbrechen? Wir hatten das Glück, dass das ursprüngliche Tonarchiv, das eine Zeit lang verschwunden war, während der Dreharbeiten wieder auftauchte. Benjamin (Lavernhe) arbeitete enorm viel daran, Stunden über Stunden, um jedes noch so kleine Detail zu erforschen. So streckten sich die Dreharbeiten über sieben Monate. Ein großer Teil davon fand im Winter statt, aber auch ein wenig im Sommer. Ursprünglich sollte diese Szene im Winter gedreht werden. Aber wir mussten sie verschieben. Dadurch hatten wir mehr Zeit zum Arbeiten, aber auch mehr Angst (lacht), weil die Szene uns so unter Druck setzte. Wir drehten mitten im August und alles war im Grunde sehr einfach. Wir schlossen uns in diesem prächtigen Holzset ein, starteten die Kamera, und da war ein Gefühl, ganz zart, sehr schön, mit sehr wenigen Aufnahmen über einen halben Tag hinweg.
Fortsetzung folgt
Foto:
©Verleih
Info:
Ein Film von Frédéric Tellier
Biopic,
Frankreich 2023,
138 Minuten
Besetzung
Abbé Pierre. Benjamin Lavernhe
Lucie Coutaz. Emmanuelle Bercot
Georges Legay Michel Vuillermoz
François. Antoine Laurent
Père supérieur Alain Sachs
Veröffentlichung aus dem Presseheft