170714 Thomas Mann 300dpi 42 von 81 3Interview mit dem ehemaligen hessischen Europaabgeordneten der CDU Thomas Mann, Teil 3/3

Davide Zecca

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Die Labour-Partei hat die britische Parlamentswahl mit einem klaren Sieg gewonnen. Sie löst nunmehr nach 14 Jahren die Konservativen im Vereinigten Königreich ab. Welche Folgen wird dies für die EU haben?
                                                                                                                                                                                                                              

In Großbritannien gab es eine Quittung für die oben erwähnten Schieflagen und nicht eingehaltene Versprechen. Der Erdrutsch-Sieg für die Opposition im House of Commons - was nicht zuletzt am britischen Mehrheits-Wahlrecht liegt - ist eine Demütigung der Regierung Sunak. Sie verlor 20%. Sogar „Mr. Brexit“, Ex-Europaabgeordneter Nigel Farage, dessen Rechtspopulisten um 12,4% zulegten, schaffte den Einzug ins Parlament. Der Regierungswechsel allerdings lief professionell ab. In kurzer Zeit übergab Premierminister Rishi Sunak die Geschäfte an Keir Starmer. Schritt für Schritt könnten normale Beziehungen wiederhergestellt werden, an denen es in den letzten Jahren gemangelt hat. Es ist nicht nur eine Frage der Vernunft, sondern auch gemeinsamer Interessen, einen Neuanfang zu wagen.

 

Gibt es Ihrer Meinung nach eine realistische Chance, dass Großbritannien in naher Zukunft wieder der EU beitritt?

Vereinbarte Verträge werden ja nicht in Rekordzeit über den Haufen geworfen. Es wurde weiterverhandelt, etwa zum Thema Nordirland. Im März 2023 erhielt es freien Zugang zum europäischen Binnenmarkt und zum britischen Markt.

Die Brexit-(Fehl-)Entscheidung des Vereinigten Königreiches wurde von den europäischen Mitgliedstaaten mit großem Bedauern zur Kenntnis genommen. Da auf jede Art von Häme verzichtetet wurde, sind die Voraussetzungen eine gute Basis für vernünftige Beziehungen. Doch für einen erneuten Beitritt braucht es etliche Jahre. Es wäre auch den Staaten nicht zuzumuten, die seit Jahren auf Mitgliedschaft warten und hart daran arbeiten, geforderte Bedingungen zu verwirklichen. Erste Maßnahmen könnte die Wieder-Teilnahme am Erasmus plus-Programm für Schüler, Auszubildende, Studenten und Fachkräfte sein. Auch das HORIZON-Programm für Forschung und Entwicklung könnte für GB erneut starten.

 

Wie sehen Sie die Rolle Frankreichs in der EU, insbesondere nach den jüngsten Wahlen?

 

Lassen Sie mich die Wahlergebnisse kurz erläutern. Bei den Europawahlen am 9. Juni gab es einen Erdrutschsieg für das Ressemblement National. (RN). Die Le-Pen-Partei holte 31 % aller Stimmen, dagegen Emmanuel Macron nur 15 %. Das EU-Projekt müsse ihrer Überzeugung nach einer „Frankreich-zuerst“-Politik weichen. Lokal stark vernetzt, arbeitet RN seit Langem an einer Strategie der „Entteufelung“, tritt betont solide statt als Bürgerschreck auf. So warf Marine le Pen die AFD aus der ID-Fraktion im EP hinaus.

 

Das desaströse Europawahl-Ergebnis für Macron, aber auch die Situation in der französischen Nationalversammlung, in der er seit zwei Jahren keine absolute Mehrheit hat, motivierte ihn zu einer „Flucht nach vorn“. Er ordnete Neuwahlen an und setzte auf ein Bündnis gegen den Rechts-Extremismus. Beim ersten Wahlgang am 30. Juni erhielt RN 31%, die neu gegründete linke Volksfront 28% und Macrons Parteien-Bündnis Ensemble nur 20%. Im 2. Wahlgang am 30. Juni, für den sich mehr als 200 Kandidaten zurückzogen, um einen Rechtsruck zu verhindern, gelang eine Sensation: Die linke Volksfront erhielt 188 Sitze, das Ensemble-Bündnis 161 und das Ressemblement National nur 142 Sitze.

 

Es wird nicht leicht sein für Macron, Kompromisse mit der Volksfront zu erzielen, die äußerst heterogen zusammengesetzt ist aus Verstaatlichern, Antisemiten, Putin-Freunden, aber auch Menschen der Mitte. Doch der französische Präsident als Mann mit Mut, der vor allem durch visionäre Reden besticht, dürfte Wege finden, um sich selbst bei knappen Mehrheiten gegen radikale Positionen durchzusetzen. Mit seinen Kompetenzen für die Außen- und Sicherheitspolitik wird sich an seinem pro-europäischen Kurs wenig ändern. Wenn allerdings in der Nationalversammlung konkrete Maßnahmen Zustimmung erfordern, dürfte es zu Abstrichen kommen, die derzeit noch nicht auszumachen sind. Die starke Rolle Frankreichs auf der europäischen Ebene wird bleiben, da Frankreichs Präsident erheblichen Einfluss auf andere Staats- und Regierungschefs hat und davon kein Jota abweichen wird.

 

 

Welche Erwartungen gibt es an die französische Regierung im Hinblick auf die EU-Politik?

 

Emmanuel Macron hat die Aufgaben für die EU mit Kühnheit, Klarheit und Kompetenz festgeschrieben. Mit seinen leidenschaftlichen Reden an der Sorbonne-Universität - sowohl nach der Bundestagswahl im September 2017 als auch im April diesen Jahres - forderte Macron ein souveräneres Europa. Dazu gehören ein gemeinsamer Verteidigungshaushalt, eine gemeinsame Eingreiftruppe und ein konsequenter Kampf gegen Terrorismus. Auf die Herausforderung Migration müsse konsequenter reagiert werden, etwa durch eine gemeinsame EU-Asylbehörde und die schrittweise Entstehung einer EU-Grenzpolizei. Angesichts der Globalisierung müsse ein Europa der Innovation entstehen. Schrittweise sollten sich die Sozialsysteme einander annähern.

 

Das Thema „strategische Souveränität“ griff er am 24. April 2024 erneut auf. Ein geeintes, deutlich souveräneres und demokratischeres Europa müsse ein Gegengewicht zu anderen Weltmächten schaffen - „sonst könnte Europa sterben.“ Er bekannte sich zum Green Deal, der jedoch in Übereinstimmung mit Wachstum, Vollbeschäftigung und einer produktiven Industrie-Entwicklung verwirklicht werden solle. In der Asylpolitik müsse man mehr Verantwortung für die Außengrenzen übernehmen mit besserer Kontrolle und systematischen Registrierungen.

 

Angesicht der russischen Aggression sei es notwendig, die europäischen Werte zu verteidigen. Russland müsse nach wie vor sanktioniert und die Ukraine weiter unterstützt werden. Notwendig seien ein Raketenabwehr-Schild, eine europäische Verteidigungs-Initiative, eine schnelle Eingreiftruppe sowie der gemeinsame Kauf von Rüstungsgütern. Unsere Interessen und Märkte müssten besser geschützt werden. Zu europäischen Präferenzen gehörten auch Investitionen in Startups, die Entwicklung von neuen Technologien und mehr Produktionen auf europäischem Boden.

 

Es ist wirklich an der Zeit, dass sich die EU-Mitgliedstaaten an die Debatte und Umsetzung dieser herausfordernden Agenda machen.

 

 

Welche Entwicklungen erwarten Sie in der europäischen Politik in den nächsten Jahren aufgrund der Wahlen in diesen beiden wichtigen Ländern, insbesondere mit Hinblick auf die kommende Bundestagswahl im Jahr 2025?

 

Ich hoffe sehr, dass das alarmierende Wahlergebnis in Frankreich die Menschen wachrüttelt, in beiden Ländern. Der deutsch-französische Motor muss wieder laufen. Es ist falsch zu behaupten, er diene einzig und allein den beiden Staaten. Fakt ist, dass durch ihn die gesamte EU vitalisiert wurde: wirtschaftlich, sozial, kulturell. Doch derzeit erleben wir nachbarschaftlich das Erstarken von Populisten und Extremisten, von Querdenkern, Wutbürgern, Hassern. Umso notwendiger ist es, sich für die Demokratie zu engagieren. Wenn ein Drittel radikal wählt, müssen zwei Drittel mobilisieren: Information statt Agitation; Integration statt Infiltration; Einbeziehung der Bürger statt Ausgrenzung.

 

Die Polarisierung nimmt in vielen EU-Mitgliedstaaten zu und reißt Brücken zwischen den Milieus ein. Wenn Veränderungen versprochen, aber nicht gespürt werden, weil es an konsequenter Kommunikation fehlt, dann entstehen auf der einen Seite Empörung und Wut, auf der anderen Seite Frustration und Ohnmacht. Für unsere Demokratie ist das abträglich. Politik muss liefern. Doch vernünftige Lösungen brauchen Zeit. Es gilt, Menschen mitzunehmen und sie aus ihren selbst gewählten Blasen, in denen sie andere Ansichten nicht mehr zur Kenntnis nehmen, zu befreien. Meinungsunterschiede sollten in Offenheit und Fairness erörtert werden mit der Chance, sinnvolle Kompromisse zu schaffen. Sie sind die Basis für neues Vertrauen in diesem und im nächsten Jahr, weit über Deutschland hinaus.

 

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Info:
Der am 28. Januar  1946 in Naumburg/Saale geborene Thomas Mann war von 1994 bis 2019 Europaabgeordneter der CDU für Hessen in der Europäischen Volkspartei. Zur Europawahl 2009 trat Mann als Spitzenkandidat der hessischen CDU an. Er lebt in Schwalbach am Taunus im Main-Taunus-Kreis, wo er  derzeit stellv. Stadtverordnetenvorsteher der Stadtverordnetenversammlung der Stadt Schwalbach ist.