Im Gespräch mit Schrifsteller Micha Lewinsky
Yves Kugelmann
Basel (Weltexpresso) - Der Schweizer Filmemacher und Autor Micha Lewinsky legt mit «Sobald wir angekommen sind» einen Roman vor, der aktueller ist, als er beim Schreiben sein konnte – ein Gespräch über Humor, Krieg und Flucht.
tachles: Ihr neuer Roman «Sobald wir angekommen sind» erzählt die Geschichte von Ben Oppenheim, der zwischen Ex-Frau, zwei Kindern, seiner neuen Liebe, Rückenschmerzen und Geldsorgen, zwei Kontinenten, Krieg und Angst vor einem Atomkrieg balanciert. Kommt zuerst die seismographische Literatur und dann die Realität?
Micha Lewinsky: Ich hoffe nicht. Ich habe mich bei dieser Geschichte aber schon von der Realität inspirieren lassen. Es war tatsächlich so, dass es einen Moment gab, vor zwei Jahren, als der Krieg in der Ukraine angefangen oder sich ausgeweitet hat, wo wir uns gefragt haben: Was machen wir eigentlich, wenn das schlimmer wird? Wo gehen wir hin?
Man liest einen Roman, teilweise Satire, eine Familiengeschichte. Im Mittelpunkt steht der neurotische Protagonist. Da steckt viel amerikanische Schreibtradition drin. Ungewöhnlich für einen Schweizer Autor.
Das ist erstmal ein grosses Kompliment. Es war aber nicht so, dass ich gesagt hab: Ich schreibe jetzt amerikanisch. Ich habe versucht, überhaupt einfach zu schreiben und ehrlich zu erzählen, humorvoll zu erzählen. Anders geht es irgendwie nicht. Das sind ja schwierige, dramatische Themen, die da vorkommen. Und ganz, ganz vieles darüber, was ich schreibe und wie ich schreibe, habe ich auch während der Arbeit erst erfahren.
Benjamin Oppenheim dachte, er sei zumindest mental bereit für die Flucht. Damit ist das zentrale jüdische Thema der Emigration, des Zeitpunkts, des Wie und Wohin gesetzt und auf einmal wieder brandaktuell.
Die ganze Entwicklung in Israel kam, als das Buch schon fast fertig war. Ja, es wurde dann beklemmend aktuell, aber ich habe tatsächlich davor schon angefangen beim Schreiben zu merken, dass es eben nicht nur die Geschichte eines Schweizers ist, der Angst hat vor dem Dritten Weltkrieg, sondern eben eines jüdischen Schweizers. Und wie viel der Fluchtinstinkt mit dem Jüdischsein zu tun hat, das mag wahrscheinlich für viele klar sein. Mir wurde es erst während der Arbeit bewusst.
Sie sind in der Schweiz aufgewachsen und dennoch treibt sie all dies um. Weshalb?
Mir ist klar geworden, dass es einen grossen Unterschied gibt zwischen den Fragen «Wohin gehen wir?» und «Wo verstecken wir uns?». Die ältere Generation in Israel, die das Land aufgebaut hat, weigert sich weiter «Wohin gehen wir?» zu fragen. Die sagen eher: «Wie verteidigen wir uns?» So wie es viele Menschen in der Schweiz und in Europa auch tun würden. Dass Benjamin Oppenheim als Jude aber gar nicht auf die Idee kommt, irgendetwas zu verteidigen, sondern dass er einfach losrennt, das fand ich interessant.
Er rennt nach Brasilien. Ein Fluchtpunkt, den viele Jüdinnen und Juden, viele Europäer gewählt haben im Zweiten Weltkrieg. Sie verbinden das mit Stefan Zweig, der nach Brasilien emigriert ist vor dem Zweiten Weltkrieg und sich dort umgebracht hat. War Zweig der Grund für Oppenheims Flucht nach Brasilien?
Nein. Wir haben Familie in Brasilien, ich war öfters dort und habe deshalb Bilder und Erinnerungen. Dann habe ich überlegt, wo soll man hin, wenn es in Europa einen Atomkrieg gäbe. Mit Jahrgang 1972 bin ich damit aufgewachsen, dass in Europa jederzeit ein Atomkrieg ausbrechen könnte. Der wäre dann verheerend und tödlich. Natürlich ist das alles auch absurd. Aber auf jeden Fall wäre das Wetter in Brasilien besser.
Diese ernsten Themen sind ja sehr humorvoll beschrieben. Auch Friedrich Dürrenmatt hat letztlich zur Atomfrage eine Groteske geschrieben. Können solche Themen besser mit einem Anteil Satire aufgegriffen werden?
Ich kann nicht anders als mit Humor. Nicht, weil ich so ein unfassbar lustiger Mensch bin, aber ich ertrage das Drama kaum, wenn es nur ernst ist. Und ich finde es auch zu einfach, wenn die Komödie nur lustig ist. Das ist meine Art zu erzählen. Wichtig ist, dass man sich in der Überhöhung nicht über die Figuren stellt.
Viele kennen das Ringen mit der jüdischen Identität und die Neurosen. Ist das Buch so eine Art Milieustudie von jungen Männern, die, wenn sie dann mal die 40 erreichen, irgendwie in die Krise kommen, oder war es eine Selbsterfahrung?
Ja, es ist schon eher Selbsterfahrung. Aber natürlich bin es nicht ich. Oppenheim hat mit meiner Wahrnehmung der Welt zu tun.
Und das Buch hat mit der Welt von heute zu tun.
Ich will nicht ausschließen, dass ich mich beeinflussen lasse von einer medialen politischen Stimmung und der damit verbundenen Gemengelage. Ich sehe aktuell keine Alternative zur bewaffneten Verteidigung Europas. Dabei war ich mal Pazifist. Manchmal hatte ich in den letzten Monaten den Eindruck, dass wir uns in einer Vorkriegszeit befinden. Vor dem Ersten Weltkrieg waren ja auch alle plötzlich wahnsinnig wild darauf, in den Krieg zu ziehen, auch in der Schweiz, und konnten es kaum erwarten. Wie das? Wie kann es plötzlich passieren, dass der Krieg eine reale Option wird und alle, die sich dem Krieg widersetzen, als Träumer und Phantasten abgestempelt werden? Das hat sich ja wiederholt. Das war damals so, das war auch im Zweiten Weltkrieg so. Gerade Stefan Zweig wurde als Verräter und Träumer angeschaut, als er gesagt hat: «Doch, es muss doch ohne Krieg gehen, es muss doch ohne nationale Konflikte gehen.» Die, die das heute sagen, die müssen sich oft verspotten lassen.
Und wie sehen Sie die Aufgabe der Kulturschaffenden in solchen Zeiten?
Eigentlich sehe ich den Auftrag eher bei den Konsumentinnen und Konsumenten. Kultur zu produzieren, ist nicht so schwer. Viel schwieriger ist es zuzuhören. Auch denen, bei denen man vielleicht gerade keine Lust hat. Ich finde sehr tragisch zu sehen, dass es gerade jetzt im Moment israelische Filme wahnsinnig schwer haben, noch irgendwo auf der Welt gezeigt zu werden. Ich kann nachvollziehen, warum Filmfestivals sich distanzieren und keine Position einnehmen möchten. Aber das Tragische daran ist, dass gerade die systemkritischen Stimmen dann untergehen und nicht mehr gehört werden, die werden ja mit gecancelt. Ich fände es durchaus wichtig, heute, wenn es irgendwo noch Stimmen gibt in Russland, die es halbwegs wagen, irgendwie kritisch zu sein, dass diesen zugehört wird. Das gleiche gilt für Israel.
Sind Sie besorgt, haben Sie Angst?
Vor wenigen Wochen war ich noch sehr besorgt. Le Pen schien in Frankreich zu gewinnen, die AfD war auf dem Vormarsch, Biden schien es Trump leicht zu machen. Gerade habe ich wieder etwas mehr Hoffnung. In Grossbritannien hat Labour die Wahlen gewonnen, Le Pen ist auf dem dritten Platz gelandet und Kamala Harris hat reale Chancen, den Faschismus zu verhindern. Das sind alles Entwicklungen, die Putin sicher ärgern. Am Ende sind es ganz viele kleine Bausteine, die die Bewegung der Weltpolitik ausmachen. Natürlich hoffe ich, dass viele langweilige Jahrzehnte auf uns zukommen, in denen meine Kinder gross werden. Aber es kann jederzeit anders kommen.
Diese Unmittelbarkeit der Gegenwart drückt dem Buch den Stempel auf und bewegt sich in der Ambivalenz der Hauptfigur.
Es ist ein bisschen so: Stellt euch Flucht vor und dann ist gar kein Krieg. Es hat auch etwas Komisches, wenn man überreagiert. Bei Oppenheimer ist nicht klar, was sein wird. Flieht er umsonst oder gibt es den Krieg doch? Ist er verrückt oder ist er nur schnell? Viele kennen diese Situation wohl heute.
Zum Schluss natürlich die Frage: Wann ist der richtige Zeitpunkt zum Gehen und wann ist man angekommen?
Vermutlich nie oder immer wieder mal. Wir kennen das Gefühl von Angekommensein als etwas Schönes. Die Frage ist, wie lange man es aushält. Wie lange es dauert, bis man wieder unruhig wird.
Foto:
Schrifsteller Micha Lewinsky fängt die Realität in seinem neuen Roman ein.
©tachles
Info::
Auf www.tachles.ch findet sich der Podcast zum Thema jüdische Geschichten, Flucht und Stefan Zweig.
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 9. August 2024