Stolper 2024 0478Neue Stolpersteine in Schlüchtern, Teil 1

Hanswerner Kruse

Schlüchtern (Weltexpresso) - Am letzten Freitag wurden in Schlüchterns Innenstadt und im Stadtteil Breitenbach neue Stolpersteine verlegt. „Hier wohnte...“, hieß es - und dadurch kehrten zwölf von den Nazis ermordete oder vertriebene Menschen symbolisch an ihre letzten freiwilligen Wohnorte zurück.

In den letzten fünf Jahren gab es bereits 45 Stolpersteine für von den Nationalsozialisten vertriebene oder ermordete - meist jüdische - Mitbürger. Mittlerweile fordern europaweit über 100.000 dieser kleinen Messingtafeln das Erinnern an die Opfer des Nationalsozialismus.

Bei dem Gedenken geht es nicht nur um die einst verfolgten Menschen mosaischen Glaubens. Vielmehr soll an alle, die vom Nazi-Terror betroffen waren, gedacht werden. Für Max und Ilse Wolf, die Unternehmer der Dreiturmwerke, wurden im Jahr 2022 Stolpersteine verlegt. Doch die Nazis drangsalierten, enteigneten und vertrieben sie bereits sehr früh, weil sie arbeiterfreundliche Sozialisten waren. Aufgrund ihrer politischen Haltung waren die Wolfs bewusst antireligiös, so dass sie aus Sicht frommer Juden eigentlich keine Juden waren.

Kommen wir nun zu den Stolpersteinen in diesem Jahr, für die der Heimat- und Geschichtsverein Schlüchtern erneut eine kostenlose Broschüre herausgibt. Wie immer recherchierte die Gruppe innerhalb des Vereins gründlich die Schicksale der Verfolgten. Das Besondere ist, dass auch an einen verfolgten Kommunisten erinnert wird und an zwei Frauen der Familie Nossbaum, die primär aufgrund ihrer psychischen Probleme ermordet wurden. 

Bewegend ist die ganze Geschichte der sechs Geschwister der Familie Nossbaum - und einem angeheirateten Schwager - aus der Obertorstraße 44. Fanny, die älteste, galt als Familienoberhaupt und musste die Schwestern und Brüder betreuen, weil der Vater früh starb und die Mutter gesundheitlich angeschlagen war. Sie kümmerte sich intensiv um Betty, das zweitjüngste Mitglied der Familie, die an erheblichen psychischen Problemen litt. 

Lange Zeit schaffte es Betty jedoch für sich selbst zu sorgen, sie übernahm sogar das Hausierergeschäft der Familie und handelte mit Stoffen und Weißwaren. Aber immer wieder wurden durch ihre Zwangshandlungen und Angststörungen die Beziehungen zu anderen Menschen eingeschränkt. Sie wurde für unmündig erklärt und häufig in Irrenanstalten (so hießen psychiatrische Kliniken) untergebracht. Möglicherweise aufgrund der starken Belastungen und die Sorge um die Familienmitglieder, erkrankte auch Fanny psychisch und wurde 1936 in eine Anstalt gesperrt. Beide Frauen wurden „euthanasiert“, also heimlich ermordet (siehe Kasten).

Von den Nazis in den Tod getrieben

Bella und ihr Mann Moritz Seemann entkamen dem Terror in Schlüchtern durch ihre Flucht nach Frankfurt, wo das Leben für Juden zunächst leichter schien. Doch 1941 wurden sie von dort aus nach Minsk deportiert und ermordet. Ebenso wie Bella eine Zeitlang, arbeiteten auch Johanna und ihr Bruder Leopold in der Dreiturm-Seifenfabrik von Max Wolf, der Unternehmer war sogar Trauzeuge bei der Hochzeit. Nach der Enteignung der Firma durften sie nicht mehr in der Seifenfabrik arbeiten, Johanna stürzte sich aus einem Fenster in der Obertorstraße, Leopold vergiftete sich in Frankfurt. Martha konnte 1939 nach England entkommen, litt aber Zeit ihres Lebens an heftigen Behinderungen durch körperliche Misshandlungen der Nazis.

In der Wassergasse 2 a wurden Stolpersteine für die einst dort lebende Familie Adler verlegt, die fast 40 Jahre lang hier lebte (Foto links) . Salomon und Julie Adler flohen spät nach Frankfurt, doch auch sie wurden von den Nazis 1942 nach Theresienstadt verschleppt und dort im Konzentrationslager umgebracht. Ihre Söhne Berthold und Max Adler konnten bereits Mitte der 1930er-Jahre in die USA bzw. nach Palästina in die USA entkommen. Während Berthold Adlers weiteres Schicksal kaum bekannt ist, dokumentierte Michael Adler, der in Palästina (1939, noch vor der Staatsgründung) Israel geborene Sohn von Max Adler, ausführlich das Über-Leben seiner Familie.
Michael Adler war bereits zwei Mal in Schlüchtern, er fand die Stadt „lovely“  und verstand, dass der Vater gerne hier gelebt hatte.

Wird fortgesetzt

Hintergrund: 
Die Euthanasiemorde der Nazis

Nicht weit von hier, in der Psychiatrie Hadamar, wurden etwa 10.000 psychisch kranke Menschen getötet. Die dort verübten Massenmorde waren Teil der T-4-Aktion, des staatlich organisierten Tötungsprogramms im nationalsozialistischen Deutschland. Zwischen 1940 und 1941 wurden dabei systematisch etwa 70.000 Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen sowie psychischen Erkrankungen ermordet. Ziel war die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, um die „Rassenhygiene“ zu fördern und wirtschaftliche Kosten zu senken. Die Opfer wurden in eigens dafür errichteten Gaskammern oder durch Medikamente und Vernachlässigung getötet. Die Aktion wurde offiziell 1941 gestoppt, lief jedoch heimlich bis zum Kriegsende weiter. Insgesamt fielen ihr über 200.000 Menschen zum Opfer.
(Quelle Wikipedia)

Fotos:
© Hanswerner Kruse