Bildschirmfoto 2025 09 03 um 01.24.19Serie. Leipziger Delegation in Kyjiv – Reise in ein Land im Krieg,    Teil II

Susanne Tenzler -Heusler

Kyjiv (Weltexpresso) - Am Morgen des zweiten Tages treffen wir den Journalisten Denys Trubezkoj, der auch für deutsche Medien arbeitet. Er ist sachlich, beinahe kühl und gerade deshalb so eindringlich. „Von Kriegsmüdigkeit zu reden, ist falsch. Die Ukraine hat diesen Krieg keinen einzigen Tag genossen. Das ist keine Auseinandersetzung mit klaren Etappen. Es ist ein Zermürbungskrieg. Er wird lange dauern. Und Putin will nicht verhandeln. Er will vernichten.“


Er spricht von den Spannungen im Land: Männern, die seit drei Jahren kämpfen; anderen, die geflohen sind; Manche verurteilen sie, andere haben Verständnis. Trubezkoj nennt es „eine Ambivalenz, die uns alle quält“.
Ein neues Wort hat in die ukrainische Sprache Einzug gehalten: „Busifizierung.“ Bedeutet: Männer, die auf offener Straße, direkt an Bushaltestellen, eingezogen werden.

Zum Abschied legt die Delegation einen Kranz in den Leipziger Farben nieder. Kurz darauf findet ein Fototermin mit Bürgermeister Vitali Klitschko statt. Es sind nur Minuten der Begegnung, aber sie sind symbolisch: Kyjiv und Leipzig, Partnerstädte in einer Zeit, in der Partnerschaft mehr heißt als Höflichkeit.

Trauer und Mut – der Unabhängigkeitstag

Der 23. August ist der Tag der Flagge, der 24. August der Unabhängigkeitstag. Überall laufen die Vorbereitungen. Frauen demonstrieren stumm auf dem Maidan. Viele von ihnen haben ihre Männer und Söhne verloren oder sie gelten als vermisst. Ohne Leichnam, so heißt es, ist man kein Held. Der Schmerz in den Gesichtern ist unfassbar.

Butscha – Gedenken an die zivilen Opfer

Am Nachmittag fahren wir nach Butscha, eine Stadt, die zum Symbol der Zerstörung geworden ist. Ein Ort, an dem man realisiert, wie sehr Zivilisten zwischen Machtansprüchen und Kriegsschauplätzen zermalmt werden.
Der stellvertretende Bürgermeister von Butscha, Taras Shapravskyi, empfängt uns.

Er spricht eindringlich, entschlossen und nennt die Zahlen: Fast 600 Tote, viele davon Zivilisten, darunter seine Kollegin und ihre Kinder – „einfach erschossen.“ Er wiederholt mit Nachdruck: „Butscha kann man nicht vergessen. Nie wieder.“

Wir legen einen Kranz nieder. Ein Zeichen unserer Anteilnahme, ein Symbol dafür, dass menschliche Schicksale nicht unsichtbar bleiben dürfen. Wie Regina Schild sagt: „Butscha war wichtig, weil wir auch den zivilen Opfern gedenken müssen. Sie dürfen nicht vergessen werden.“ Am Mahnmal stehen mehrere Tafeln, auf denen die Namen der Opfer verewigt sind (Titelbild).

Dann fahren wir weiter zur Gedenkstätte, wo verbrannte und zerborstene Autos stehen – stumme Zeugen des Grauens. Einige sind mit Sonnenblumen bemalt, dem Symbol der Hoffnung, das zugleich Trauer über den Tod ausdrückt.

Taras Shapravskyi ist der stellvertretende Bürgermeister von Butscha, der die Tragödie dokumentierte. 

Bildschirmfoto 2025 09 03 um 01.26.35Wirkung und Bedeutung

In dieser Stadt, die Wortlosigkeit zur Sprache macht, erfassen wir die Dimension des Verlustes und die Aufgabe der Erinnerung. Jede verkohlte Karosserie, jeder eingravierte Name ist ein Aufruf an uns: Wir dürfen nicht wegschauen.

 

Zivilgesellschaft gegen das Schweigen

Am späten Nachmittag treffen wir uns mit Serhiy Danylov von UAMES und Alena Lunova von der ZMINA Human Rights Center. Zwei Organisationen, die sich verbinden, um Zeugen zu werden.

UAMES – Wissen als Widerstand

UAMES (Ukrainian Association for Middle East Studies) ist ein Forschungs- und Analysezentrum, das sich mit geopolitischen Spannungen, Sicherheitsfragen und den Folgen der russischen Okkupation beschäftigt. Ihre Arbeit trägt dazu bei, komplexe Zusammenhänge zu verstehen, damit politische Entscheidungen auf einer soliden Faktenbasis beruhen – und nicht auf Ignoranz oder Ideologie. Indem sie internationale Entwicklungen vergleichend betrachten, geben sie nicht nur Antworten, sondern eröffnen Debatten.

ZMINA – Dokumentieren, damit niemand schweigen kann

ZMINA wurde 2012 gegründet und setzt sich für die Stärkung der Menschenrechte und Zivilgesellschaft in der Ukraine ein. Seit dem Beginn der großangelegten russischen Aggression hat sich ihr Fokus auf Bildschirmfoto 2025 09 03 um 01.29.21die Dokumentation von Kriegsverbrechen und Verstößen gegen Menschenrechte verlagert.

Unter der Leitung von Tetiana Pechonchyk gehören sie der „Ukraine 5AM Coalition“ an, gemeinsam mit über 30 weiteren NGOs, um systematisch Beweise für Gerichtsfälle zu sammeln. Sie arbeiten nach internationalen Standards wie dem Istanbul- und Berkeley-Protokoll und erfassen Beweise, dokumentieren Folter und Interviews mit Betroffenen, oft unter Einsatz ihres Lebens.

 

„Es geht um mehr als Waffen und Geld. Es geht darum, die Stimmen der Menschen zu hören. Ihre Erfahrungen müssen Teil jeder Verhandlung sein.“

Dieser Satz bleibt hängen. Denn hier geht es nicht um militärische Stärke, sondern um das Sammeln von Stimmen, Fakten und Erinnerungen.

Zwischen Tanz und Tod

Auf dem Heimweg, am Ende dieses dichten Tages, überrascht uns ein Moment, der alles überlagert: Junge Menschen tanzen auf der Straße. Sie halten sich an den Händen, drehen sich, lachen, singen. Ein Fest des Lebens. Das geht uns wirklich nahe: das Nebeneinander von Lachen und Weinen, von Hoffnung und Verlust, von Leben und Tod.

Und die Reise geht weiter

Bildschirmfoto 2025 09 03 um 01.31.54Doch unsere Tage in Kyjiv sind noch nicht vorbei. Am Unabhängigkeitstag wird die Stadt zum Symbol für Trauer und Stolz zugleich. Fahnen, Gesichter, Gedenken auf dem Maidan. Dort begegnen wir Ihor Poshyvailo, dem Direktor des EuroMaidanMuseums, der uns erklärt, warum Erinnerungskultur nicht nur Vergangenheitsbewältigung ist, sondern eine Überlebensfrage für die Ukraine.

 Foto: Susanne Tenzler-Heusler

Wir werden an den Orten stehen, wo Geschichte und Gegenwart ineinandergreifen: bei den offiziellen Gedenkfeiern am Maidan, später im Babyn Jar, der Stätte des Massakers an zehntausenden jüdischen Menschen im Zweiten Weltkrieg.

Und wir sprechen weiter mit der Zivilgesellschaft: mit Psycholog*innen der NGO Vostok, die Menschen aus den besetzten Gebieten begleiten; mit Frauen, die das Nachbarschaftsleben organisieren, das Alltagsleben aufrechterhalten, Familien stützen und damit dem Krieg etwas entgegensetzen, das stärker ist als Gewalt: Solidarität.

Zwischen den offiziellen Terminen, den diplomatischen Gesprächen und den stillen Momenten an den Gedenkstätten bleibt die Frage: Wie hält eine Gesellschaft das aus? Mehr als drei Jahre Krieg, mehr als drei Jahre Alarm, mehr als drei Jahre ständige Nähe des Todes und doch findet man immer wieder die Kraft, das Leben zu feiern?

Fortsetzung folgt

Fotos:
Gedenken in Butscha
Verkohlte Karosserie 
Sonnenblumen und Slawa Ukraini
Ein Kranz in den Leipziger Farben für Kiew
alle Fotos: ©Susanne Tenzler-Heusler

 

Info:
Teil I der Serie : https://weltexpresso.de/index.php/zeitgesehen/35341-ankunft-in-einer-stadt-im-ausnahmezustand 
Teil II der Serie: https://weltexpresso.de/index.php/zeitgesehen/35342-alltag-im-zermuerbungskrieg