Die Jacob Augstein-Debatte: Eine verpasste Chance. Ein Beitrag Sammelband "Gebildeter Antisemitismus", Teil 9

 

Matthias Küntzel

 

Hamburg (Weltexpresso) - Die Pressekonferenz mit Rabbi Cooper, die den Ausgang dieser Debatte entscheidend beeinflusste, wurde nicht von der öffentlich finanzierten Antisemitismusforschung, sondern von dem Mideast Freedom Forum Berlin initiiert, einer Nicht-Regierungsorganisation.

 

Das staatlich finanzierte Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) hatte sich um eine solche Klärung nicht bemüht. Dessen Leiterin, Prof. Stephanie Schüler-Springorum, meldete sich während der Debatte nicht ein einziges Mal zu Wort. Allerdings hatte sie auch zu den vorausgegangenen Kontroversen über den Antisemitismus—der Grass-Debatte, der Beschneidungsdebatte oder der Diskussion um die Verleihung des Adorno-Preises an die Israel-Boykotteurin Judith Butler—geschwiegen.

 

So blieb es einer Mitarbeiterin des Zentrums, Dr. Juliane Wetzel, überlassen, sich zu Augstein zu äußern. Doch was geschah: Sie nahm Augstein gegen den Vorwurf, er bediene antisemitische Klischees, ausdrücklich in Schutz.

 

Nur wenige Monate zuvor hatte sie das Grass-Gedicht noch als “eine Vorlage für jene” bezeichnet, “die antisemitische Klischees, Ressentiments und Vorurteile hegen.” Grass habe mit seiner Aussage “über Israel, das den Weltfrieden bedrohe [...] Möglichkeiten [eröffnet], das anti-antisemitische Tabu im öffentlichen Diskurs zu durchbrechen.” Es bleibt bei Juliane Wetzel offen, warum Augsteins Loblied auf diese Aussage nicht denselben Tatbestand erfüllt.

 

Sie ließ es bei der Verteidigung Augsteins nicht bewenden: “Man muss die Sache richtigstellen”, erklärte sie in einem Interview: “Wenn wir den Begriff Antisemitismus ständig benutzen für Dinge, die nicht antisemitisch sind, dann höhlen wir ihn aus” (Wetzel 2013).

 

Das Zentrum für Antisemitismusforschung schloss sich damit dem Vorwurf an, dass ausgerechnet das Simon Wiesenthal-Zentrum dem Kampf gegen den Antisemitismus schade (Wetzel 2012). Dieses Urteil wurde bis heute nicht korrigiert.

 

Das Problem besteht nicht darin, dass wir das Wort “Antisemitismus” für Dinge benutzen, die nicht antisemitisch sind. Sondern es besteht darin, dass das Vorhandensein von Antisemitismus geleugnet wird, nur weil sich dieser neu drapiert.

 

Wie akut das Problem der Leugnung ist, beweist eine neue Studie des ZfA. Darin wird allen Ernstes vorgeschlagen, den “Begriff Antisemitismus [...] für solche Phänomen zu reservieren, bei denen die Ablehnung von Juden als Juden ideologisch oder in anderer Weise weltanschaulich verankert ist bzw. als Teil eines politischen Programms formuliert wird” (Kohlstruck/Ullrich 2014: 91).

 

Nach dieser Definition träte “Antisemitismus” fortan nur bei organisierten Nazis (“politisches Programm”) oder in islamistischen Zirkeln auf, während es einen israelbezogenen Antisemitismus schon deshalb gar nicht geben könnte, weil sich dieser nicht gegen “Juden als Juden”, sondern gegen den jüdischen Staat richtet. Mit dieser Begriffsbestimmung wären nicht allein die Kolumnen eines Jakob Augstein, sondern auch die Aufrufe Mahmoud Ahmadinejads, Israel zu vernichten, vom Antisemitismusvorwurf befreit.

 

Gleichwohl wird diese neue Studie von der Direktorin des Zentrums als wegweisend angepriesen und vom Berliner Senat gefördert und verbreitet. Hier scheint das eigene Versagen während der Augstein-Debatte keinen Lerneffekt ausgelöst zu haben.

 

Info:

 

Dieser Aufsatz wurde 2015 erstmals in dem von Monika Schwarz-Friesel herausgegebenen Band “Gebildeter Antisemitismus. Eine Herausforderung für Politik und Zivilgesellschaft” im Nomos-Verlag Baden-Baden als Band 6 der von Prof. Samuel Salzborn herausgegebenen Reihe “Interdisziplinäre Antisemitismusforschung” veröffentlicht und im Januar 2016 mit Zustimmung der Herausgeberin und des Verlages als Online-Extra Nr. 231 des Online-Portals http://www.compass-infodienst.de dokumentiert. Einen Prospekt des sehr zu empfehlenden Buches und dessen Inhaltsverzeichnis finden sich am Ende aller Beiträge

 

Inzwischen haben Lukas Betzler und Manuel Glittenberg ein 300-seitiges Buch über die Jakob Augstein-Debatte veröffentlicht: Antisemitismus im deutschen Mediendiskurs. Eine Analyse des Falls Jacob Augstein, Nomos Verlag Baden-Baden 2015, Bd. 5 der Reihe Interdisziplinäre Antisemitismusforschung.

 

Ein Literaturverzeichnis rundet die umfangreiche Serie am Schluß ab.