Die Jacob Augstein-Debatte: Eine verpasste Chance. Ein Beitrag Sammelband "Gebildeter Antisemitismus", Teil 8

 

Matthias Küntzel

 

Hamburg (Weltexpresso) - Die Wut konzentrierte sich besonders auf Henryk Broder, der Augstein beim Wiesenthal Center denunziert und damit das eigene Nest beschmutzt haben soll. Dieses Gerücht war schnell widerlegt; gleichwohl geriet der bekannteste jüdische Journalist unter Beschuss.

 

 

Das SWC habe sich zum “Vollstrecker” einer Rufmordkampagne (gemacht), “die Broder seit Längerem gegen den Freitag-Herausgeber führt”, behauptete die Frankfurter Rundschau und fuhr fort: “Es spricht für den deutschen Rechtsstaat, dass Henryk M. Broder bis heute frei herumläuft” (Bommarius 2013). Hier offenbarte sich eine kaum noch zu bändigende Aggression.

 

 

 

Mit dem virulenten Schuldmotiv lässt sich aber auch der israelbezogene Antisemitismus erklären, der in der deutschen Öffentlichkeit derart verbreitet ist, dass es schon besonderer Anstrengungen bedarf, um von ihm nicht angesteckt zu werden.

 

 

 

Vielleicht ist es dies, was die massenhafte Solidarität mit Augstein erklärt: Die meisten wollten dessen antisemitisches Potential nicht erkennen, weil sie es mehr oder weniger teilen. So wie es früher normal war, dass man pauschal etwas gegen “Juden” hatte, ist es heute normal, dass man pauschal etwas gegen “Israel” hat. Man kennt dies aus dem Alltag. Die Augen des Gesprächspartners beginnen einen fiebrigen Glanz auszustrahlen, seine Stimme bekommt einen metallischen Klang—wenn nur die Chance besteht, den erhobenen Zeigefinger in Richtung Israel zu schwenken.

 

 

 

Bei keinem anderen Thema schlagen die Emotionen Hass, Wut und Empörung so hoch wie bei Debatten und Kontroversen um den israelisch-palästinensischen Nahostkonflikt”, konstatieren Jehuda Reinharz und Monika Schwarz-Friesel. “Bei keinem anderen Thema ist das Bedürfnis so groß, ,Lösungsvorschläge‘ und ,gute Ratschläge‘ zu erteilen, ,Strafmaßnahmen‘ zu verhängen” (Schwarz-Friesel/Reinharz 2013: 233).

 

 

 

Warum? Weil es auch bei diesen Emotionen unterschwellig um die Schulddruckentlastung geht. Da aber Wut auf Juden weiterhin unschicklich ist, bietet sich Wut auf Israel förmlich an. Auch deshalb sollten sich Journalisten, bevor sie über Israel schreiben, stets der großen psychologischen Verlockung bewusst werden, die darin besteht, in den Israelis, also den Juden, brutale Verbrecher zu sehen.

 

 

 

Es zeigt sich, dass aus dem sekundären, die Shoah verleugnen wollenden Antisemitismus der israelbezogene erwächst. Es handelt sich hier um ein deutsches Phänomen, das mit dem islamischen Antisemitismus, der andere Wurzeln hat und sich anders artikuliert, nicht verwechselt werden kann.

 

 

 

Jakob Augstein möchte von alldem nichts wissen. Im Streitgespräch mit Dieter Graumann blitzte die psychologische Dimension der Kontroverse für eine Sekunde nur auf:

 

 

 

Graumann: “Im Zusammenhang mit Ihren Formulierungen drängen sich in der Tat Fragen auf: Warum ist das so? Gibt es da noch etwas, das in Ihrem Innern verborgen ist?”

 

Spiegel: “Sie meinen, Jakob Augstein muss auf die Couch?”

 

Graumann: “Ich werde einen Teufel tun, irgendwelche diagnostische Ratschläge zu geben. Das steht mir nicht zu.”

 

Augstein: “Da bin ich froh. Wahrscheinlich gehören alle Deutschen auf die Couch, so wie wahrscheinlich alle Juden.”

 

Graumann: “Die hierzulande übrigens auch Deutsche sind. Ja, wir Juden sind traumatisiert, und ich wünschte, alle wären dafür sensibilisiert.”

 

Augstein: “Ja, wir müssen alle auf die Couch. Nebeneinander. Aber lassen Sie mich ganz unemotional feststellen [...]”.(Beyer/Follath 2013)

 

 

 

Man erkennt, dass Augstein das Moment des Unbewussten sofort ins Lächerliche zieht und durch die Gleichstellung von Opfern und Tätern leugnet. Damit will er nichts zu tun haben: “Ich argumentiere rational, und Sie versuchen, das auf die Psycho-Ebene zu ziehen.”

 

 

 

In Wirklichkeit ist gerade die Weigerung, die besondere psychologische Aufladung zur Kenntnis zu nehmen, irrational. Es gibt kein deutsches Gespräch über Juden, Palästinenser und Israel, das nicht unterschwellig von der Wucht der Shoah beeinflusst wird.

 

 

 

Selbstbewusst bedeutet auch, “sich selbst” bewusst zu sein. Wer sich mit der psychologischen Verlockung, in Israel einen Verbrecherstaat zu sehen, nicht auseinandersetzen will, ist schwerlich “sich selbst bewusst”.

 

 

 

Rational wäre es, sich fortlaufend um eine erhöhte Sensibilität für die Nachwirkungen der Shoah auf das kollektive Bewusstsein in Deutschland zu bemühen und zu begreifen, dass Antisemitismus sich stets unterschiedlich artikuliert, weshalb es darauf ankommt, seine jeweils neuesten Erscheinungsformen aufzuspüren und zurückzuweisen.

 

 

 

Es ist eben nicht so, dass schon am Antisemitismus-Verdacht das Gewicht von sechs Millionen Ermordeten hängt. Es gibt antisemitische Äußerungen, bei denen sich der Sprecher nicht bewusst ist, eine Grenze überschritten zu haben. Hier kommt es auf den guten Willen und die Fähigkeit zur Selbstkorrektur an.

 

 

 

Info:

 

 

 

Dieser Aufsatz wurde 2015 erstmals in dem von Monika Schwarz-Friesel herausgegebenen Band “Gebildeter Antisemitismus. Eine Herausforderung für Politik und Zivilgesellschaft” im Nomos-Verlag Baden-Baden als Band 6 der von Prof. Samuel Salzborn herausgegebenen Reihe “Interdisziplinäre Antisemitismusforschung” veröffentlicht und im Januar 2016 mit Zustimmung der Herausgeberin und des Verlages als Online-Extra Nr. 231 des Online-Portals http://www.compass-infodienst.de dokumentiert. Einen Prospekt des sehr zu empfehlenden Buches und dessen Inhaltsverzeichnis finden sich am Ende aller Beiträge

 

 

 

Inzwischen haben Lukas Betzler und Manuel Glittenberg ein 300-seitiges Buch über die Jakob Augstein-Debatte veröffentlicht: Antisemitismus im deutschen Mediendiskurs. Eine Analyse des Falls Jacob Augstein, Nomos Verlag Baden-Baden 2015, Bd. 5 der Reihe Interdisziplinäre Antisemitismusforschung.

 

 

 

Ein Literaturverzeichnis rundet die umfangreiche Serie am Schluß ab.

 

 

 

 

 

 

 

 

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