Die Jacob Augstein-Debatte: Eine verpasste Chance. Ein Beitrag Sammelband "Gebildeter Antisemitismus", Teil 7
Matthias Küntzel
Hamburg (Weltexpresso) - In ihren ersten Reaktionen auf die WSC-Listung präsentierten sich der 1967 geborene Jakob Augstein und dessen 1966 geborener Kollege Minkmar als kompetente Kenner des Antisemitismus, die sich vom Simon Wiesenthal Center nichts sagen lassen müssen. Mehr noch: Sie klärten das Center über dessen “strategische Fehler” im Kampf gegen den Antisemitismus auf.
Von Zuhören, Innehalten oder Nachdenken keine Spur. Da konnten die alten Juden vom Simon Wiesenthal-Zentrum sagen, was sie wollen: Die Jungen wussten allemal besser, was den Kampf gegen den Antisemitismus schwächt oder ihm nutzt.
Diese Haltung hat mit der Generation der Post-1968er zu tun. Hier dominiert das Pathos eines doppelt reinen Gewissens, das sich—nachgeboren und links—jeder selbstkritischen Reflexion auf die eigenen Beweggründe enthoben wähnt. Augstein, Minkmar und Kollegen fühlen sich freier und souveräner als ihre Vorgänger, weil sie davon überzeugt sind, sich mit der Nazi-Geschichte vorbildlich auseinandergesetzt zu haben (Küntzel 1999: 16 ff.).
Der Antisemitismusvorwurf des SWC hat dieses idealisierte Selbstbild brüsk infrage gestellt. Die Möglichkeit, dass es eine Berechtigung hierfür geben könnte, wurde von Augstein und Kollegen gar nicht erst erwogen. Man reagierte, wie Menschen auf narzisstische Kränkungen reagieren: mit Abwehr und Aggression (Rensmann 1998: 236 ff.).
So selbstgerecht, wie Martin Walser 1998 die angebliche “Instrumentalisierung unserer Schande für gegenwärtige Zwecke” anprangerte, wies 15 Jahre später sein Sohn im Spiegel-Streitgespräch die vermeintliche “Instrumentalisierung eines schweren Vorwurfs”, den des Antisemitismus, zurück.
Andere sprachen nicht nur von einer “Instrumentalisierung” sondern gleich von einer “Keule des Antisemitismusvorwurfs” (Hoffmann/Pfister 2013) oder von “einer pauschalen Keule, die man rausholt, wenn es um Grauzonen geht” (Holz 2013), um anzudeuten, wer hier der Aggressor ist.
Das Bild vom übergriffigen Juden und angstvollen Deutschen tauchte bereits in einer Augstein-Kolumne auf. Nach Erscheinen der Top Ten-Liste wurde dieses Zerrbild dominant: Man zelebrierte sich als akut bedrohtes Opfer und schmückte diese Wahnvorstellung aus.
So wurde, um den Angriff gefährlicher aussehen zu lassen, aus der Textkritik des Wiesenthal-Zentrums eine Art Fahndungsaufruf konstruiert. Man habe Augstein “zum Verbrecher, sozusagen für vogelfrei [erklärt]”, behauptete der Tagesspiegel (Martenstein 2013). “Wer Israel kritisiert, wird mit der Antisemitismus-Schrotflinte beschossen” (Reinecke 2013), beklagte die taz, während sich der Spiegel zwar nicht über einen Dolchstoß in den Rücken beklagte, aber doch über einen “gänzlich unerwartete[n] Tritt in den Rücken” (Höges 2013).
Umso größer war dann das Erstaunen, dass mit Rabbi Abraham Cooper kein blitzespeiender Rachegott, sondern ein gelassener und freundlicher älterer Herr das Podium der Pressekonferenz betrat.
Trotz der Beteuerung von Jakob Augstein, normal zu sein (“Ich habe vielleicht mehr Normalität im Umgang mit Israel, als Ihnen bewusst ist”, Beyer/Follath 2013) war an den kollektiven Emotionen, die die Augstein-Debatte an die Oberfläche spülte, überhaupt nichts normal.
Die Nichtnormalität aber hat mit der Nichtnormalität der Shoah zu tun und mit der Wucht ihrer Nachwirkung bis in die Gegenwart.
Wenn eine Untat gesühnt und damit ausgeglichen ist, tritt in der Regel Ruhe ein. Bleibt ein Verbrechen hingegen ungesühnt, entsteht eine Schieflage, dominieren Unruhe und Angst. Nehmen wir als fiktives Beispiel einen Deutschen, der seine Nachbarn—eine zehnköpfige jüdische Familie—in einem Wahnanfall zu töten sucht und acht davon erschießt. Wenn er dafür bestraft wird, ist der Gerechtigkeit Genüge getan. Was aber, wenn überhaupt keine Strafe erfolgt? Kann sich dann sein Verhältnis zu den beiden Juden, die das Massaker überlebten, normalisieren? Natürlich nicht. Die Unruhe und die Angst, dass es irgendwann zu der fälligen Bestrafung kommt, werden den Täter und dessen Nachkommen zeitlebens begleiten.
Die Shoah aber war ein Verbrechen, das nicht gesühnt werden kann. Das Schuldmotiv bleibt deshalb im deutschen Gedächtnis virulent und tritt mal auf die eine, mal auf die andere Art zutage (Becker et al. 1997: 106 ff.).
So lassen sich einige der Phantasievorstellungen während der Augstein-Debatte mit dem Phänomen der Projektion erklären. Bei diesem Vorgang schreibt man bestimmte Wünsche, die man in sich selbst verleugnet, anderen zu: “Die Projektion erscheint immer als eine Abwehr, in der das Subjekt dem Anderen Qualitäten, Gefühle, Wünsche, die es ablehnt oder in sich selbst verleugnet, unterstellt” (Laplanche/Pontalis 1973: 403).
Das Subjekt ist hier der Deutsche, der diejenigen, die ihn immer wieder an die Shoah erinnern, zum Schweigen bringen will. Da er sich den Wunsch aber niemals eingestehen kann, wird dieser auf den Gegner projiziert, von dem plötzlich angenommen wird, er wolle den Deutschen mundtot machen (Joffe 2005: 7 f.).
Info:
Dieser Aufsatz wurde 2015 erstmals in dem von Monika Schwarz-Friesel herausgegebenen Band “Gebildeter Antisemitismus. Eine Herausforderung für Politik und Zivilgesellschaft” im Nomos-Verlag Baden-Baden als Band 6 der von Prof. Samuel Salzborn herausgegebenen Reihe “Interdisziplinäre Antisemitismusforschung” veröffentlicht und im Januar 2016 mit Zustimmung der Herausgeberin und des Verlages als Online-Extra Nr. 231 des Online-Portals http://www.compass-infodienst.de dokumentiert. Einen Prospekt des sehr zu empfehlenden Buches und dessen Inhaltsverzeichnis finden sich am Ende aller Beiträge
Inzwischen haben Lukas Betzler und Manuel Glittenberg ein 300-seitiges Buch über die Jakob Augstein-Debatte veröffentlicht: Antisemitismus im deutschen Mediendiskurs. Eine Analyse des Falls Jacob Augstein, Nomos Verlag Baden-Baden 2015, Bd. 5 der Reihe Interdisziplinäre Antisemitismusforschung.
Ein Literaturverzeichnis rundet die umfangreiche Serie am Schluß ab.