Die Jacob Augstein-Debatte: Eine verpasste Chance. Ein Beitrag Sammelband "Gebildeter Antisemitismus", Teil 5
Matthias Küntzel
Hamburg (Weltexpresso) - In einem Streitgespräch, zu dem der Spiegel ihn und Dieter Graumann, den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, eingeladen hatte, erhielt Augstein Gelegenheit, sich zu erklären. Es war das wichtigste Gespräch zwischen einem deutschen Juden und Nicht-Juden seit Dezember 1998, als Ignatz Bubis, der Vorgänger Graumanns, mit Martin Walser, dem Vater Augsteins, über dessen Paulskirchenrede sprach (Bubis 1998). [2]
Augstein erhielt Gelegenheit, die SWC-Vorwürfe zu widerlegen, sich von den Spielarten der israelbezogenen Judenfeindschaft zu distanzieren und die Debatte über Antisemitismus und Journalismus voranzubringen.
Doch das Gegenteil geschah. Er beharrte nicht nur darauf, dass seine Beiträge, die er “noch einmal sorgsam gelesen” habe, bis auf eine Nazi-Assoziation “nichts Anstößiges” enthielten. Sondern er griff zugleich den angeblich “neurotischen Journalismus” anderer Autoren beim Thema Israel und deren “verdruckste Texte” an. Im Gegensatz dazu würde er, Jakob Augstein, “keine Doppelstandards”, sondern “Normalität im Umgang mit Israel” praktizieren.
“Verdruckstheit” versus “Normalität”: Die Begriffe, die dem Spiegel-Erben flott über die Lippen kamen, haben Gewicht. Der Ruf nach Normalität im Umgang mit Israel beinhaltet den Wunsch, an Auschwitz nicht länger erinnert zu werden. Dies aber ist das Motiv, das dem sekundären Antisemitismus zugrunde liegt.
“Verdruckst” wiederum steht für gehemmt und scheu, für unsicher und schüchtern. Das Wort beschreibt einen Zustand, der durch mangelndes Selbstbewusstsein gekennzeichnet ist. Augstein tut, als ginge der Kampf gegen den Antisemitismus und für eine wahrheitsgerechte Nahost-Berichterstattung mit Duckmäusertum und Demutsgesten einher. Dabei handelt es sich um eine selbstbewusste Aktivität, die aus einer schlimmen Geschichte positive Schlussfolgerung ziehen will.
Anstatt eine der Brücken zu betreten, die Dieter Graumann seinem Gesprächspartner baute, riss Augstein diese unverzüglich ein:
Graumann: “Wenn ich sage, dass aus Ihren Kolumnen ein antijüdisches Ressentiment begünstigt wird, dann sollten Sie das ernstnehmen. Das ist keine Hysterie.”
Augstein: “Mir kommt es vor wie die Instrumentalisierung eines schweren Vorwurfs. Es geht nicht um mich, es geht darum, Debattenverläufen den Riegel vorzuschieben.” [...]
Graumann: “Wenn Sie innehielten, bevor Sie loslegen gegen Israel, wäre viel gewonnen.” [...]
Augstein: “Vielleicht habe ich mehr Normalität im Umgang mit Israel, als Ihnen bewusst ist. Ich will diesen neurotischen Journalismus nicht. Ich schreibe über Angela Merkel oder über Amerika oder über die Linken oder die SPD nicht anders.”
Graumann: “Merken Sie denn gar nicht, dass das etwas anderes ist?”
Augstein: “Ich verstehe, dass Sie das sagen. Aber während ich schreibe, spüre ich das tatsächlich nicht.”
Graumann: “Dann lesen Sie es noch mal, bevor Sie es abschicken, mit Empathie.”
Augstein: “Das will ich gar nicht. Ich möchte als Journalist über israelische Sicherheits- und Siedlungspolitik keine verdrucksten Texte schreiben. Ich habe auch nicht das Gefühl, dass ich mich bei dem, was ich schreibe, bremsen müsste.” (Beyer/Follath 2013)
Es war ein drastisches und schockierendes Gespräch, das die Einstufung des Wiesenthal-Zentrums unerwartet eindeutig bestätigte. Augstein behauptet, es sei “neurotisch”, über Israel in einer Weise zu schreiben, die dessen Besonderheiten einbezieht. Er erklärt Geschichtsvergessenheit für normal und gibt zu verstehen, dass ihn die jüdische Stimme stört.
Erstaunlicher noch als dieses Gespräch war die deutsche mediale Reaktion: Während sich die Medien nach der Veröffentlichung der Top Ten-Liste des SWC mit immer neuen Berichten und Kommentaren geradezu überschlugen, tat die deutsche Öffentlichkeit nach diesem Streitgespräch so, als hätte es dieses nicht gegeben: Kaum eine Erwähnung, kein Kommentar, keine Debatte. Stattdessen: ohrenbetäubendes Schweigen.
Über die Gründe lässt sich derzeit nur spekulieren. Waren Augsteins Kolleginnen und Kollegen über dessen Angriffe auf den Vertreter der deutschen Juden begeistert, ohne das nach außen demonstrieren zu wollen? Oder wurde geschwiegen, weil nach der Lektüre des Gesprächs dem einen oder anderen die vorherige Parteinahme für Augstein peinlich geworden war?
Während zuvor noch eine Flutwelle journalistischer Solidaritätsadressen und Exkulpationsschriften die Feuilletons gefüllt hatte, nahm jetzt die Kritik an Augstein zu. Einen bemerkenswerten Aufsatz verfasste der langjährige Spiegel-Redakteur Matthias Matussek, der unter der Überschrift “Meine Stunde als Antisemit” seine Augstein-Kritik mit dem selbstkritischen Rückblick auf eine von ihm selbst einst verfasste Kolumne verband (Matussek 2013). [3]
Anmerkungen:
(2) Weitere Teilnehmer dieses Gesprächs waren Frank Schirrmacher und Salomon Korn.
(3) Am selben Tag veröffentlichte die taz den Artikel “Mit fettarschiger Selbstzufriedenheit” von Deniz Yücel und die Welt meinen Beitrag “Augstein und der Israelkomplex” sowie am 16.01.2013 unter dem Titel “Dämonisierung mit dem Ziel der Delegitimierung” ein Gespräch mit dem Antisemitismusforscher Samuel Salzborn.
Info:
Dieser Aufsatz wurde 2015 erstmals in dem von Monika Schwarz-Friesel herausgegebenen Band “Gebildeter Antisemitismus. Eine Herausforderung für Politik und Zivilgesellschaft” im Nomos-Verlag Baden-Baden als Band 6 der von Prof. Samuel Salzborn herausgegebenen Reihe “Interdisziplinäre Antisemitismusforschung” veröffentlicht und im Januar 2016 mit Zustimmung der Herausgeberin und des Verlages als Online-Extra Nr. 231 des Online-Portals http://www.compass-infodienst.de dokumentiert. Einen Prospekt des sehr zu empfehlenden Buches und dessen Inhaltsverzeichnis finden sich am Ende aller Beiträge
Inzwischen haben Lukas Betzler und Manuel Glittenberg ein 300-seitiges Buch über die Jakob Augstein-Debatte veröffentlicht: Antisemitismus im deutschen Mediendiskurs. Eine Analyse des Falls Jacob Augstein, Nomos Verlag Baden-Baden 2015, Bd. 5 der Reihe Interdisziplinäre Antisemitismusforschung.
Ein Literaturverzeichnis rundet die umfangreiche Serie am Schluß ab.