Abgehängte votieren für ihre endgültige Entmündigung - was schon Siegfried Kracauer mit DIE ANGESTELLTEN als Gefahr sah

 

Klaus Philipp Mertens

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Die Ergebnisse der Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt scheinen der AfD zumindest vorläufig zum Durchbruch verholfen zu haben.

 

Diese Partei, die ein autoritäres, weithin undemokratisches und antisoziales Staatsverständnis aufweist, fand - den vorliegenden Analysen zufolge - neben ihren Anhängern bei Rechtskonservativen und Rechtsextremisten vor allem in solchen Bevölkerungsgruppen zusätzliche und entscheidende Wähler, die auf ein gerechtes und solidarisches Gemeinwesen zwingend angewiesen sind, um nicht der allmählichen Verelendung ausgeliefert zu sein.

 

Es sind die, die bereits zu den Ärmeren gehören und es sind jene, die voraussichtlich zu den künftigen Verlierern des Neoliberalismus zählen werden. Beiden Schichten fehlt offensichtlich das politische Bewusstsein, um ihre jeweilige Situation hinreichend erkennen und daraus Schlussfolgerungen ziehen zu können. Denn es hat den Anschein, dass sie die Wahrung ihrer Interessen ausgerechnet denen anvertrauen, von denen sie instrumentalisiert werden und die ganz andere Ziele verfolgen.

 

Hauptziel der AfD ist - so weist es deren bekannt gewordenes neues Grundsatzprogramm aus - ein wirtschaftlich weitgehend autarker Ständestaat, der die Aufrechterhaltung der Besitzverhältnisse als nationales Anliegen ausgibt. Ein Staat, der die Wünsche der Bürger nach einer wirksamen Rechtsordnung durch Entrechtung ad absurdum führt und der die öffentliche Daseinsvorsorge (z.B. Arbeitslosen- und Krankenversicherung) privatisiert und damit die Gesellschaft entsolidarisiert. Während die AfD einerseits die bedenklichen anti-emanzipatorischen Tendenzen im Islam kritisiert, haben andererseits Aufklärung, Französische Revolution und soziale Errungenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts an ihrem Menschen- und Gesellschaftsbild keine Spuren hinterlassen. So ist sie faktisch eine Partei von vorgestern mit dem für solche Gruppierungen typischen Hass auf kritische Intellektuelle, nicht zuletzt auf Kultur und Wissenschaft und auf die freie Presse.

 

Die deutsche Geschichte kennt solche Gruppierungen, die vor allem im Bund mit anderen ultrakonservativen und nationalistischen Kräften sowie mit Teilen der Großindustrie zur Bedrohung Deutschlands, Europas und der Welt wurden. Auch die Warnungen vor ihnen sind nicht neu.

 

Einer, der die gesellschaftlichen Voraussetzungen für den Erfolg des deutschen Faschismus sehr exakt beschrieben hatte, war Siegfried Kracauer. Als Leiter der Feuilleton-Redaktion der Frankfurter Zeitung in Berlin hatte er sich bereits einen Namen als Filmkritiker gemacht. 1930 verfasste er eine mehrteilige Studie, die unter dem Titel „Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland“ als Fortsetzung in der „Frankfurter Zeitung“ erschien.

 

Darin beschreibt er die Angestellten als eine soziale Gruppe, die "geistig obdachlos ist". Obwohl sie von den Linken zu den Proletariern gezählt würden und die Konservativen sie dem Mittelstand zurechneten, seien sie faktisch entwurzelt, weil der Produktionsprozess die Bedeutung ihrer (Büro-) Arbeit entwertete. Sie seien Kleinbürger auf der Einbahnstraße nach ganz unten und vielen sei das auch bewusst. Doch sie reagierten auf ihre Situation mit Verlustängsten und klammerten sich an eine Bürgerlichkeit, von der ihnen jeden Tag ein Stück verloren ginge.

 

Und so analysiert Kracauer mit Verweis auf Karl Marx messerscharf: „Der Überbau passt sich nur langsam der von den Produktivkräften heraufbeschworenen Entwicklung des Unterbaus an. Die Stellung dieser Schichten im Wirtschaftsprozess hat sich gewandelt, ihre mittelständische Lebensauffassung ist geblieben. Sie nähren ein falsches Bewusstsein. Sie möchten Unterschiede bewahren, deren Anerkennung ihre Situation verdunkelt.“

 

Und Walter Benjamin bestätigt die Erkenntnis seines Freundes in der Rezension der Studie: „Es gibt heute keine Klasse, deren Denken und Fühlen der konkreten Wirklichkeit ihres Alltags entfremdeter wäre als die Angestellten. Die Anpassung an die menschenunwürdige Seite der heutigen Ordnung ist beim Angestellten weiter gediehen als beim Lohnarbeiter.“

 

Statt die Besitz- und Produktionsverhältnisse für die eigene Misere verantwortlich zu machen, erblicke der Kleinbürger im Intellektuellen den geborenen Feind. Während letzterer die bürgerlichen Ideologien längst durchschaut hätte, sehne sich der Angestellte nach einer starren Ordnung, in der lediglich Raum bliebe für Verdrängung und Illusionen.

 

70 Jahre nach den Völkermorden des Zweiten Weltkriegs steht das heutige Deutschland erneut an einem Scheideweg. Die Schere zwischen Armen und Reichen klafft immer weiter auseinander. Die Deregulierung, welche die Regierung Schröder/Fischer auf den Weg brachte, bedroht immer größere Bereiche des Sozialstaats. Der staatlichen Rentenversicherung wurde ein nennenswerter Teil zugunsten privater Vorsorge geopfert, die aber in Zeiten einer verordneten europäischen Niedrigzinspolitik bereits am Ende zu sein scheint. Der Kleinsparer kann nicht darauf hoffen, dass sein unter Entbehrungen für Notfälle zurückgelegtes Geld seinen Wert behält. Das Wohnen in den Großstädten ist für Durchschnittsverdiener kaum noch bezahlbar. Trotz angeblichen Fachkräftemangels besitzen Langzeitarbeitslose kaum Chancen auf neue Beschäftigungen.

 

Wenn in einer solchen Situation eine Million Flüchtlinge aus nachvollziehbaren Gründen ins Land drängt und allein deren Unterbringung, später auch deren Integration Milliarden Kosten verursacht, bedarf es eines stabilen sozialen Bewusstseins, um sich auf diese Herausforderungen einlassen zu können.

Die Verlierer von Deregulierung und Neoliberalismus erweisen sich bereits schon länger als anfällig für falsche Schlussfolgerungen. Schließlich hat vor allem die Partei, die das soziale Erbe der deutschen Geschichte zu verwalten vorgibt, die SPD, kaum etwas zur Bewusstseinsbildung ihrer einst beachtlichen Wählerschaft beigetragen.

 

Bereits Kracauer fragte in seiner Studie: „Wie schult die Gewerkschaft den Angestellten? Was tut sie, um ihn aus dem Bann von Ideologien zu befreien, die ihn fesseln?“

 

Bewusstseinsbildung ist gleichzeitig Teilhabe am demokratischen Prozess. Nur so kann vermieden werden, dass die Abgehängten noch weiter benachteiligt und sogar zu Feinden der Demokratie und dieses Staats werden.

 

 

Info:

 

Siegfried Kracauer

Die Angestellten

Aus dem neuesten Deutschland

 

Mit einer Rezension von Walter Benjamin

 

123 Seiten

 

Suhrkamp Taschenbuch 13

ISBN 978-3-518-36513-7