Die Unterscheidung zwischen Flucht und Migration einschließlich der Folgen nicht dem rechten Rand überlassen – und was Konrad Ott dazu meint

 

Klaus Philipp Mertens

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - »Jeder Bedrohte muss aufgenommen werden!« - »Wie sollen wir mehr als eine Million Flüchtlinge bewältigen, schaffen wir das wirklich?« Die Flüchtlingsdebatte bewegt sich zwischen sehr gegensätzlichen Positionen. Und läuft dabei Gefahr, von Rechtsextremen für eigene Interessen vereinnahmt zu werden.

 

Der Kieler Philosoph und Ethiker Konrad Ott vergleicht vor diesem Hintergrund in einem soeben erschienenen Essay beide Ansätze und bietet damit eine ethische Orientierung zu unserer moralischen und politischen Verantwortung in der Flüchtlingsfrage. Dabei macht er die Fragestellung an Max Webers Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik fest und entwirft die Grundzüge eines Regelwerks für Zuwanderung, sowohl für die aktuelle als auch für jede zukünftige.

 

Gesinnungsethik zeichne sich für Max Weber dadurch aus, dass sie bestimmte moralische Grundsätze (Wertaxiome oder Prinzipien) rigoros vertrete. Um der Einhaltung der Grundsätze willen müssten selbst unwillkommene, gar riskante bis gefährliche Folgen in Kauf genommen und zusätzlich bewältigt werden (beispielsweise das Erstarken nationalistischer und rassistischer Strömungen). Die Verantwortungsethik hingegen frage zunächst nach den erwartbaren Ergebnissen und den Auswirkungen des moralisch bestimmten Handelns. Dabei ginge sie keinesfalls gesinnungs- oder prinzipienlos vor. Aber sie wäge ab, bliebe pragmatisch und stelle jede auch noch so ehrenwerte übergeordnete Idee (Ideologie) zunächst zurück. So erweise sie sich als ein Kind der politischen Philosophie und des Staatsrechts.

 

Konrad Ott folgt Webers Annahme, dass der Streit zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik „unaustragbar“ sei, weil kaum Chancen bestünden, die jeweils andere Seite bzw. die jeweilige moralische Position argumentativ vom Gegenteil zu überzeugen. Um einen unproduktiven politischen und weltanschaulichen Grabenkampf zu vermeiden, müssten die Grundüberzeugungen analysiert werden.

Darum beginnt Ott seine Darstellung mit einer Unterscheidung zwischen Flucht und Migration.

 

Flüchtlinge definiert er als Schutzsuchende, denen ein weiterer Aufenthalt in ihren Heimat- und Herkunftsländern unzumutbar sei. Wer fliehe, besäße keine sinnvolle Alternative mehr. Dabei sei auch die Wahl zwischen Flucht oder Kampf keine wirkliche Option. Einen Syrer mit dem Argument abzuweisen, er hätte ja auch bleiben und kämpfen können, widerspräche unserem humanitären Verständnis. Realpolitisch hingegen sei es nicht abwegig anzunehmen, dass dann, wenn viele flöhen und nur wenige kämpften, die Chancen der Diktatoren und Tyrannen, an der Macht zu bleiben, stiegen und darum das Elend der Menschen kein Ende nehmen könnte.

Das subjektive Moment bei der Beurteilung der Flucht sei die Furcht, das objektive Moment deren sachliche Begründetheit. Dazu bedürfe es jedoch eines sachverständigen Blicks auf die politische Lage in den betreffenden Staaten, was aufgrund der verschiedenen zu berücksichtigenden Faktoren nicht immer möglich wäre. Ob ein Flüchtling aus der ihm so erscheinenden Ausweglosigkeit zu entkommen versuche oder sich mit einer kalkulierten Strategie absetze, sei kaum ausreichend zu beurteilen.

 

Im Gegensatz dazu sei die Situation von Migranten eindeutiger. Denn hier herrsche das Bestreben vor, die eigenen Lebensaussichten sowie die der Angehörigen durch Auswanderung zu verbessern. Obwohl die Migrationsgründe in der Regel wohlüberlegt seien, bestünde trotzdem kein Anlass, diese moralisch zu verwerfen. Auch dann nicht, wenn offensichtliche Falschinformationen (z.B. durch Schlepper, soziale Netzwerke etc.) oder Fehlinterpretationen (z.B. durch Bilder von einer Willkommenskultur oder Äußerungen von Politikern) die Ursachen für die Wanderung wären.

 

Dennoch bestünde ein Unterschied zwischen Flucht und Migration. Fluchtgründe würden uns, die Bevölkerung demokratischer Staaten, stärker in die Pflicht nehmen als Migrationsgründe. Flüchtlinge bräuchten Schutz, den wir ihnen nicht versagen dürften. Auch die Genfer Konvention würde uns das auferlegen. Zudem hätten politisch Verfolgte gemäß Grundgesetz bei uns Anspruch auf Asyl. Der Schutz der Flüchtlinge beinhalte Unterbringung und Unterhalt sowie die gesundheitliche Versorgung. Diese Aufgaben seien Staatsaufgaben; zusätzliche private Hilfeleistungen seien aber erlaubt.

 

Zu Migranten hingegen dürften wir uns anders verhalten als zu Flüchtlingen. Wir könnten es von unseren wohlerwogenen Interessen abhängig machen, welchen Gruppen wir aus welchen Gründen die Einwanderung erlauben wollten. Ein Menschenrecht auf Einwanderung, zumal in ein bestimmtes Land, bestehe völkerrechtlich nicht.

 

Die Zulässigkeit dieser Unterscheidung zwischen Flüchtlingen und Migranten würde von manchen Gesinnungsethikern bestritten oder zumindest für problematisch gehalten. Vielfach würde in diesem Zusammenhang geäußert: „Die Leute kommen ja ohnehin, sie lassen sich nicht aufhalten.“

 

Solche Unaufhaltsamkeitsthesen könnten jedoch bedeuten, dass das Instrumentarium des Staates schnell erschöpft wäre. Sowohl moralische Skrupel trotz eindeutiger Unterscheidungsmöglichkeiten zwischen Flüchtlingen und Migranten als auch Fatalismus angesichts einer massenhaften Zuwanderung brächten die Gefahr mit sich, dass die Akzeptanz in entscheidenden Teilen der Bevölkerung abnähme. Letzteres würde denen in die Hände spielen, die weder politisches Asyl noch den Schutz von Flüchtlingen noch eine geregelte Einwanderung bejahten, ja, diese sogar durch Provokationen und Gewaltanschläge verhindern wollten.

 

Konrad Ott dekliniert die Phänomene Flucht und Migration kurz und prägnant an allen Kriterien, die einerseits von der Gesinnungsethik und andererseits von der Verantwortungsethik aufgestellt werden. Dadurch versachlicht er die Diskussion und liefert kaum zu widerlegende Argumente gegen die Vereinfacher.

 

 

Info:

 

Konrad Ott

Zuwanderung und Moral

Was bedeutet das alles?

 

94 Seiten. Kartoniert

Reclam

ISBN 978-3-019376-1

Ladenpreis 6,00 Euro