Eine ganz persönliche Stellungnahme zum Tod von Hans-Dietrich Genscher

 

Jaka Bizilj

 

Berlin (Weltexpresso) – Genschman ist tot. Man kann das nicht glauben. Der Mann, der alle Gefahren eines Jahrhunderts getrotzt hatte, der als Herzinfarktpatient die Wiedervereinigung ermöglichte? Der Mann, dessen Schicksal die politische Geschichte der Bundesrepublik Deutschland spiegelt?

 

Als Kanonenfutter in die Kinderarmee Wenck beordert, überlebte er als Einziger, der die feindlichen Linien ausspähen sollte, um den Ring im das belagerte Berlin zu sprengen – als Jugendlicher, der auf einmal einem sowjetischen Soldaten Auge in Auge gegenüberstand. Hans-Dietrich Genscher erzählte mir, wie sie beide zitternd und voller Angst die Gewehre wortlos senkten: `Man sagte uns wir seien Feinde, aber wir waren keine Feinde.`

 

Der jugendliche Genscher floh über einen schmalen Steg und unter Beschuss in die Kriegsgefangenschaft. Kaum hatte er diese überlebt und war nach Hause gekommen, musste er jahrelang wegen eines schweren Lungenleidens in ein Sanatorium. Ärzte prophezeiten, dass er nie wieder vollwertig arbeiten werden können. Doch der Hallenser ließ sich nicht unterkriegen, er studierte Jura – bis er vor den Repressalien der berühmt-berüchtigten Hilde Benjamin (`Für einen wie Sie ist kein Platz in der DDR`) aus der DDR floh – mit einem Zug nach West-Berlin und dann weiter nach Bremen, mit nichts anderem als einem Koffer.

 

`Ich wollte in die Freiheit,`erzählte er mir, als wir mit Cinema for Peace einen Ehrenempfang für Hans-Dietrich Genscher zum 20. Jubiläum der Unabhängigkeit Sloweniens ausrichteten, die es ohne Genscher nicht gegeben hätte. Als der Kreg in Ex-Jugoslawien in Slowenien begann, stellte sich Genscher sofort auf die Seite von Demokratie und Freiheit. Tag und Nacht verhandelte er später mit seinen europäischen Kollegen, um deren Ablehnung zur Anerkennung von Slowenien und Kroatien in den frühen Morgenstunden in eine Zustimmung zu verwandeln. Menschen in vielen Ländern hatten Genscher ihre Freiheit mit zu verdanken, von den baltischen Staaten bis ins ferne Namibia. Legendär die Anekdoten, die er mir erzählte, etwa wie Kanzler Kohl in der Tagesschau verkündete, dass eine Anerkennung der baltischen Staaten noch nicht auf der Tagesordnung stünde, und Genscher ihn danach anrief und mitteilte, dass die kleineren Partner zuerst vorpreschen und Deutschland am kommenden Montag ebenfalls zustimmen würde - die Mitteilungen seien mit einer Sperrfrist schon rausgegangen. In Slowenien empfingen wir Genschman auf Schloss Brdo, das nur Staatsgrößen vorbehalten war, dort wo sich Putin und Bush das erste Mal getroffen hatten oder auch die Queen empfangen wurde. Aber Genschman war den Slowenen wichtiger.

 

Nachdem wir den oscarpreisgekrönten Anti-Kriegsfilm `No Mans Land`gezeigt hatten, zollten alle Verantwortlichen des kleinen Landes Tribut an Genschman: alle Minister, der erste Staatspräsident Sloweniens Kucan als Laudator,und der aktuelle Staatspräsident luden zusätzlich zur Dankes-Audienz. Und alle hatten einen gelben Pulli dabei, kein Kleidungsstück genoß in den 90er Jahren ein solches Ansehen wie Genschers "diplomatische Uniform".

 

Genschman war mehr als einmal in Lebensgefahr. Er jagte in den siebziger Jahren als Innenminister Terroristen - und wurde von diesen gejagt: seine Tochter musste vor dem Klassenzimmer mit Maschinenpistolen bewacht werden, sein engster Mitarbeiter Gero von Braunmühl wurde vor dem Haus seiner Familie von der RAF erschossen. Genscher weinte kniend auf dem Bürgersteig um einen Freund – und musste fortan gegen seinen Willen nun auch eine Waffe tragen - die seine Mitarbeitet immer wieder suchen mussten, wenn er sie mal wieder vergaß.

 

Als bei der Olympiade Terroristen israelische Sportler in ihre Gewalt nahmen, verhandelte Genscher mit den Entführern über die Geiseln, von denen einer bereits ermordet in einer Blutlache lag. Er versprach zu helfen, er bot sich als Austauschgeisel an: `Als Innenminister kann ich für sie genauso wertvoll sein wie die Geiseln. Bitte nehmen sie mich.` Er bot sein Leben an, denn seiner Überzeugung nach durften nach dem Holocaust in Deutschland keine Menschen jüdischen Glaubens mehr getötet werden. Es war der bitterste Moment seines Lebens, als Genscher machtlos aus dem Flughafentower zuschauen musste, wie vor seinen Augen die Geiseln erschossen wurden und ein Hubschrauber mit den Geiseln in Feuer aufging. "Nichts ist schlimmer als die Machtlosigkeit nicht helfen zu können, wenn Menschen sterben, " sagte er mir 40 Jahre später mit tiefster Betroffenheit. Genscher gründete in der Folge die GSG 9.

 

Diese Angst zu versagen und wieder nicht helfen zu können, packte ihn erneut, als die deutsche Revolution im Herbst 1989 auf des Messers Schneide stand. Genscher hatte als Herzinfarktpatient mit einem Defibrillator im Handgepäck und zwei Kardiologen an seiner Seite vor der UNO und der erschrockenen Weltgemeinschaft (Thatcher: "Zwei mal haben wir sie geschlagen, jetzt sind sie wieder da!“) Deutschlands Grenzen als endgültig bestätigt, ein New Yorker Polizeiauto gekapert, um im letzten Moment seinen sowjetischen Kollegen Schewardnadse, der gerade noch Deutschland Revanchismus vorgeworfen hatte, mit einem Trick die Zustimmung zur Befreiung der Prager Botschaftsflüchtlinge abzuringen ("Eduard wir können nicht fünfhundert Kinder im Stich lassen!") und DDR-Außenminister Fischer die Zuglösung zurück durch die DDR ans Herz gelegt, damit die DDR ihr Gesicht wahren konnte.

 

Doch als er über Nacht aus New York zurückflog, in Bonn die Zustimmung der DDR zur Zuglösung überbracht wurde und Genscher sofort nach Prag weiterreiste, wurde ihm untersagt, die Züge zu begleiten. Die Angst war wieder da: Würden die Menschen ohne Genscher als Gewährsträger freiwillig wieder in die DDR mit dem Zug fahren? Was, wenn der Zug aufgehalten und alle verhaftet würden? Genschers Büroleiter Frank Elbe sagte auf dem Weg durch die engen Gassen Prags, während Genscher - wie immer vorne rechts sitzend und beim Nachdenken den Kiefer nach rechts schiebend- eine Rede auf einen Schmierzettel zu schreiben versuchte: *Herr Minister, sie können die Menschen nicht überreden, sie müssen sie mitreißen.` Als Genschman auf den Balkon trat - die Kardiologen waren in Bonn geblieben, um sich vom Jetlag und Übernachtflug zu erholen - , wurde ihm schwarz vor Augen – wegen einer Blendung, aber auch wegen seiner Herzrhythmusstörungen.

 

Als die Menge nach dem ersten Jubel erfuhr, dass die Ausreise zurück über die DDR stattfinden solle, kam es zu Pfiffen und Buhrufen. In diesem Moment lief Mr. Bundesrepublik zur Hochform auf: er offenbarte sich als einer der ihren: er sei genauso mit dem Zug geflohen, er sei aus Halle - und ließ alle Hallenser sich melden. Die Menschen vertrauten Genschman, sie bestiegen sogar Busse mit Stasi-Kennzeichen, um zum Bahnhof zu fahren, die Züge in die Freiheit wurden von Radiodurchsagen begleitet ("Weinen den Verrätern keine Träne nach.") und versetzten ein ganzes Land in Brand, die Bürgerdemonstrationen explodierten, und als in Leipzig Kalaschnikows, Blutkonserven und OP-Dienste am 9. Oktober 1989 vorbereitet wurden, um das Massaker am Tian'anmen-Platz zu wiederholen, dem die DDR-Führer gratuliert hatten, war die Bürgermenge so unendlich groß und Gorbatschows Gebot der Gewaltlosigkeit so wirksam, dass die friedliche Revolution Wirklichkeit wurde. Die größte Revolution in der Geschichte der Menschheit, symbolisiert durch den Fall der Berliner Mauer, die die Welt in Ost und West geteilt sowie an den Abgrund der atomaren Auslöschung gebracht hatte, verlief ohne ein einziges Opfer, ohne einen einzigen Schuss. So etwas hatte es noch nie gegeben.

 

Als Michail Gorbatschow an Weihnachten 1991 sich vom sowjetischen Volk verabschiedete und die Ära der Sowjetunion und des Kommunismus in diesen Moment endeten, machte er ein letztes Telefonat: er sprach mit Hans-Dietrich Genscher, und bedankte sich bei seinem Freund. Er wusste, dass Genscher ein Schlüssel zum Ende

des Kalten Krieges und zum Fall der Mauer gewesen war - und ein wichtiger Stützpfeiler für Gorbatschow selbst.

 

Nach Angaben seines Assistenten Charnaev hatte die CIA Michail Gorbatschow Anfang 1989 noch maximal noch sechs Monate im Amt gegeben. Gorbatschow wackelte und ein Hardliner hätte einer Wiedervereinigung kaum zugestimmt. Es war Genscher, der im Frühjahr gegen den Willen von Helmut Kohl, Margaret Thatcher und George Bush neue Atomraketen in Deutschland verhinderte und damit Gorbatschows Abrüstungskurs rettete. Genscher sagte am 27. April 1989 vor dem Bundestag, bevor er frühzeitig die

Sitzung verließ, um bei der Hochzeit seiner Tochter dabei zu sein: „Die Mitglieder der Bundesregierung leisten den Eid, ihre Kräfte dem Wohle des deutschen Volkes zu widmen. Die Verpflichtung aus diesem Eid endet nicht an der Grenzen mitten durch Deutschland. Die damit begründete nationale Verantwortung schließt meine Heimat, schließt die Stadt, in der ich geboren bin, und schließt die Menschen, die in der DDR leben, nicht aus, nein, diese Verantwortung schließt diese Menschen ein."

 

 

Gorbatschow konnte gestärkt im Sommer 1989 nach Deutschland kommen, hunderttausende jubelten dem Sowjetführer zu und streckten ihm ihre Kinder entgegen. die Presse schrieb von einem "Gorbasmus" und dem ersten "Sommermärchen"

- und diese Euphorie schwappte über in die DDR, wo die Bürger nach den gefälschten Kommunalwahlen endgültig die Nase voll hatten und sich die Fluchtmassen in Bewegung setzten.

 

Der Weg zur friedlichen Bürgerrevolution war kein einfacher. Genschman mußte nach Helmut Kohls wegweisendem Zehn-Punkte-Plan das aufgebrachte Ausland wieder eingefangen, im Westen und Osten als Diplomat wahre Wunder wirken und im letzten Moment den sogenannten Wiedervereinigungsvertrag „2+4“ nachts in Moskau retten, als Thatcher entgegen den Absprachen auf NATO-Manöver in der DDR bestand und Gorbatschow die Vertragsunterzeichnung am nächsten Morgen schon abgesagt hatte: Genschman holte nachts um zwei Uhr James Baker in einer Bademantelkonferenz aus dem Schlaf und drehte das Geschehen am nächsten Morgen mit Douglas Hurd und Roland Dumas, dem französischen Amtskollegen, der eigentlich nie Außenminister werden wollte, um den Deutschen nicht begegnen zu müssen, da er seinen Vater mit nackten Händen begraben musste, nachdem die Nazis ihn in der Resistance erschossen hatten. Doch jetzt, als es um die Wiedervereinigung ging, half Dumas Genscher, er half Deutschland. Die Kriegsschuld wurde verziehen, und den Deutschen ihre Souveränität zurückgegeben.

 

Genschman blieb bis zuletzt auf allen Ebenen aktiv. Als vor der Olympiade 2014 in Sotchi Mihail Chodorkowski freigelassen wurde, war die Spinne im Netz, wie ihn seine ehemaligen Mitarbeiter und Minister wie Gerhart Baum ehrfurchtsvoll nannten, hinter den Kulissen wieder aktiv: Genscher verhandelte die Freilassung persönlich mit Putin. Als Chodorkowski nach Jahren der Gefangenschaft in einer Nacht und Nebel-Aktion ausgeflogen wurde, begrüßte ihn in Berlin am Flughafen in der wiedergewonnenen Freiheit – Hans-Dietrich Genscher.

 

Für Genschman gab es keinen Ruhestand. Auf das Angebot, Bundespräsident zu werden, hatte er wegen seines schwachen Herzens und der Familie verzichten müssen. Aber wenn man in Bonn im lauschigen Garten mit ihm zum Gespräch zusammensaß, dann musste man immer damit rechnen, daß unterbrochen werden mußte, weil das aktuelle Kabinett einer Beratung bedurfte, oder auch mal der geschätzte Nachfolger Westerwelle oder Steinmeier anrief, mit dem er auch das 25. Jubiläum der Befreiung der Prager Flüchtlinge feierte. Zu Genschmans Vermächtnis zählt die emotionsgeladenste politische Botschaft, die in Deutschland je überbracht wurde, jene, die den Mauerfall einleitete, jene, die die Bürgerbewegung in der DDR auf einhunderttausend Menschen wenige Tage später bei der Montagsdemo in Leipzig explodieren ließ, jene Botschaft, die den Anfang vom Ende der DDR einleitete: "Wir sind heute zu ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen..."

 

Als am 3. Oktober 1990 ganz Deutschland die Einheit feierte, besuchte ein Mann alleine und schweigend das Grab einer Person, die ihn ein Leben lang beschützt hatte, und welche die Verwirklichung seines Lebenstraumes nicht mehr miterleben durfte. Hans-Dietrich Genscher bedankte sich bei seiner Mutter und erinnerte sich einer Zeile seines Lieblingsdichters: „Die Freiheit ist das Odem unseres Lebens.“

 

Hans-Dietrich Genscher und Helmut Schmidt wurden kürzlich zu den beiden wichtigsten Deutschen gewählt. Mit ihrem Tod ist eine Ära zu Ende gegangen. Die Ära des Nachkriegsdeutschlands.

 

Unser Mitgefühl gehört Ehefrau Barbara und Tochter Martina.

 

 

Anmerkung:

 

Unter der Überschrift Hans-Dietrich Genscher: `Bitte nehmen Sie mein Leben` / " Wir sind heute zu Ihnen gekommen.…" schickte uns die Organisation Cinema for Peace den von Jaka Bizilj verfaßten Nachruf, den wir sehr gerne veröffentlichen.

 

Der Autor ist Gründer der Cinema for Peace-Initiative, Produzent und Autor. Er hat die Lebensgeschichte von Hans-Dietrich Genscher für einen Spielfilm sowie Teile des "The Wall Museum East Side Gallery" aufgenommen.