oder Die SPD träumt von ihrer großen Stunde. Und verschläft sie möglicherweise erneut

 

Klaus Philipp Mertens

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) -Derzeit ist viel von der SPD die Rede. Von ihrem Absturz auf 20 Prozent und weniger in der Wählergunst. Aber auch vom Optimismus ihres Vorsitzenden, der sich vor dem Hintergrund eines schwer zu lösenden, weil de facto in seinem Ausmaß nicht erkannten und deswegen laufend vertagten Flüchtlingsproblems eines geplanten Integrationsgesetzes rühmt.

 

Das Projekt erscheint jedoch bei näherem Hinsehen wie eine Mogelpackung aus einem Second-Hand-Kramladen.

 

 

Was mit viel Propaganda als Errungenschaft feil geboten wird, bewegt sich zwischen unübersichtlich, unvollständig und in manchem Detail so komplex bis widersprüchlich, dass der Chef der Bundesagentur für Arbeit dank seines vielgerühmten Sachverstands das Vorhaben (kontraproduktive Sanktionspolitik nach dem Prinzip „Fordern und fördern“) endgültig zum Scheitern bringen wird - so wie alles, was man ihm bisher zur Erledigung übertragen hat.

 

 

Ähnlich weltfremd erscheinen die Überlegungen der SPD zur Stabilisierung der gesetzlichen Rente. Wenn sie hier etwas verändern will, müsste sie zur Umkehr bereit sein. Zur Umkehr von jenem verhängnisvollen antisolidarischen Weg, den sie unter Schröder, Müntefering und Riester eingeschlagen hatte. Die hatten sich an zweifelhaften „Experten“ wie Bernd Raffelhüschen und Bert Rürup orientiert, die für ihre Nähe zur Versicherungswirtschaft bekannt waren - namentlich zu Carsten Maschmeyer und seinem „Allgemeinen Wirtschafts Dienst - AWD“.

 

 

Der soziale Befreiungsschlag der SPD kann, wenn er erfolgreich sein will, nur in der Wiederanhebung des Rentenniveaus und der Rentenversicherungspflicht auch für Selbstständige und Beamte liegen. Begleitet werden müsste er durch eine allgemeine Krankenversicherung, der so genannten Bürgerversicherung.

 

 

Sigmar Gabriel wird dazu mutmaßlich der falsche Vorsitzende sein. Seine Liebe zu TTIP und seine jüngsten Komplimente für den ägyptischen Präsidenten berechtigen zu erheblichen Zweifeln an seiner sozialdemokratischen Gesinnung. Und die anderen aus der Führungsriege? Also Andrea Nahles, Steinmeier, Oppermann, Steinbrück? Nein, das wäre wie ein Aufstand aus dem Grab der Lebendigen, so etwas wie die Gründung einer Beerdigungsbruderschaft oder eines letzten Abendmahls für die Partei.

 

 

Mich erinnert dieser beklagenswerte Zustand von Deutschlands ältester Partei an eine Kurzgeschichte von Kurt Tucholsky von 1930. Sie trägt den Titel „Ein leicht besoffener älterer Herr“. Es geht um einen selbstständigen kleinen Gemüsehändler im Berlin der späten 20er Jahre. Er besucht die Wahlveranstaltungen mehrerer Parteien, bedient sich überall am großzügig angebotenen Freibier und an anderen Alkoholika und zieht zum Schluss ein Resümee. Die NSDAP konnte ihn mit ihrer Marschmusik und ihren lauten Rufen nicht überzeugen. Die Katholiken (Zentrum) enttäuschten ihn, er fühlte sich wie unter Ministranten. Bei der Deutschen Staatspartei war lediglich der Weinbrand gut. Zum Abschluss war er noch bei den Sozialdemokraten. Hier fühlte er sich zu Hause. Also entscheidet er sich für die SPD. Und begründet das mit den Worten: „Ich werde wahrscheinlich diese Partei wählen. Es ist so ein beruhigendes Gefühl. Man tut was für die Revolution und weiß genau, mit dieser Partei kommt sie nicht. Und das ist wichtig für einen selbstständigen Gemüsehändler.“

 

Das beruhigende Gefühl, das die SPD so viele Jahrzehnte tatsächlich vielen vermitteln konnte, ist einer breiten Enttäuschung gewichen. Denn alles, was Arbeitnehmer, auch solche aus der so genannten gesellschaftlichen Mitte, auf eine lebenswerte Gegenwart und Zukunft hoffen ließ, ist dahin geschmolzen: Das Rentenniveau sowie das Vertrauen auf sichere Arbeitsplätze und faire Löhne.

 

Diese Partei ist seit ihrer Gründung tendenziell antirevolutionär. Marx und Engels spotteten im „Manifest“ über ihren Vorgänger, den so genannten wahren oder deutschen Sozialismus: „Er proklamiert die deutsche Nation als die normale Nation und den deutschen Spießbürger als den Normalmenschen.“

 

Doch ohne eine zumindest innere Revolution wird die SPD nicht überleben können. Sie bedarf eines intellektuellen Kraftakts, von der Basis bis in die Spitze, um nicht der Bedeutungslosigkeit anheim zu fallen. Bei Umfragewerten zwischen 19 und 20 Prozent gibt es eigentlich nur die Wahl zwischen „das Licht selbst ausmachen“ oder „eine Feuersbrunst entfachen“.

 

Info:

Ein Buchtipp:

Axel Honneth

Die Idee des Sozialismus

Versuch einer Aktualisierung

Suhrkamp Verlag

ISBN 978-3-518-58678-5

168 Seiten. Hardcover

Erschienen im Oktober 2015

Ladenpreis 22,95 Euro