Feature „Kirche und Politik“, Teil 2/8

 

Klaus Philipp Mertens

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Am 19. April 1967 starb Konrad Adenauer, der erste Kanzler der Bundesrepublik und nach Meinung vieler seiner Gegner der Mitinitiator einer konservativen Restauration nach dem Zweiten Weltkrieg. Es war ein Freitag. Zwei Tage danach war ich Gast bei der Konfirmation in einem Dortmunder Stadtteil. Der Gemeindepfarrer, den ich im nachfolgenden Bericht Rolf Denter nenne, hatte mich zwei Monate zuvor dazu eingeladen.

 

 

Wir kannten uns flüchtig, mehr vom Sehen als durch Gespräche. Das Dortmunder Büro der »Kampagne für Demokratie und Abrüstung«, welche die alljährlichen Ostermärsche der Atomwaffengegner organisierte, war seit 1966 unser gelegentlicher Treffpunkt. Im Februar dieses Jahres 1967 saßen wir bei der Auftaktkundgebung im Hans-Sachs-Haus in Gelsenkirchen zufällig nebeneinander. Wir waren am Vormittag den brillanten Ausführungen des Politologen Johannes Agnoli über die Transformation der Demokratie in Deutschland gefolgt. Und hatten uns im Anschluss von Franz Josef Degenhardt, Dieter Süverkrüp und Hanns Dieter Hüsch begeistern lassen sowie dem Dortmunder Arbeiterschriftsteller Max von der Grün zugehört. Seine Kritik an den alten Mächtigen des Ruhrgebiets, den Krupps, Thyssens, Kirdorfs, entsprach auch unserer Überzeugung.

 

Bei dieser Gelegenheit fragte ich Denter, welche Möglichkeiten er als evangelischer Pfarrer besäße, von Fall zu Fall auch politisch zu predigen.

 

»Ich besitze nominell die Freiheit, alles, was sich mit der Bibel und den Bekenntnisschriften der lutherischen Kirche seriös begründen lässt, auf der Kanzel zu sagen. Auch politische Aussagen, falls sie nicht direkt parteipolitisch wären. Theoretisch. Die Wirklichkeit sieht hingegen häufig anders aus. Aber ich lade Sie ein, eine meiner nächsten Predigten zu besuchen. Am 21. April konfirmiere ich die diesjährigen Konfirmanden. Dann werde ich mal wieder versuchen, Gott und Welt auf einen Nenner zu bringen.«

 

Er gab mir seine Visitenkarte, auf der er Ort, Datum und Beginn der Feier notiert hatte. Ich versprach zu kommen.

 

Und ich löste mein Versprechen ein. Um 10 Uhr morgens an diesem 21. April saß ich mit über 200 Menschen in der historischen Kirche in Dortmund-Kirchderne und wartete mit ihnen auf den Pfarrer. Doch der kam nicht. Die Konfirmanden feixten bereits, ihre Angehörigen wurden ungeduldig, etliche zeigten sich verärgert. Nach einer geschätzten halben Stunde Zuwartens ging ein Mitglied des Kirchenvorstands hinüber ins benachbarte Pfarrhaus. Wenige Minuten danach kehrte er mit Rolf Denter zurück.

 

Der machte einen mitgenommenen, gar verwahrlosten Eindruck. Das blasse Gesicht wies rötliche Flecken auf; sein Haar war zerzaust, er wirkte verschwitzt und seine Bewegungen waren fahrig. Talar und Beffchen saßen nicht korrekt. Vor der niedrigen Treppe zur Kanzel verharrte er zunächst, dann erklomm er mühsam die wenigen Stufen. Oben angekommen wandte er sich an die Gemeinde und bat sie mit krächzender Stimme, »Befiehl du deine Wege« zu singen. Pfarrer Denter war offensichtlich betrunken. Oder er hatte sich von einem kräftigen Rausch noch nicht erholt.

 

»Ich hatte einen Grund zu feiern«, begann er nach dem Eröffnungslied die Konfirmationspredigt. »Einer meiner politischen Gegner, Konrad Adenauer, ist vor zwei Tagen gestorben. Und ich bin darüber nicht traurig. Vielmehr habe ich auf seinen Tod gewartet. Als die Nachricht kam, habe ich mir eine Flasche Cognac gegönnt. Jetzt bin ich neugierig auf den Tag des Jüngsten Gerichts. Auf welcher Seite wird Adenauer stehen? Bei den Gerechten? Oder bei denen, die auf ewig verdammt sein werden? Ich bin mir meiner Sache sicher. Liebe Konfirmanden, versucht, in dem langen Leben, das ihr noch vor euch habt, immer Partei für die Gerechten zu ergreifen. Liebet eure Nächsten, steht in ihnen bei, wenn sie der Hilfe bedürfen. Übt Gerechtigkeit gegenüber jedermann.«

 

Dann stieg er unbeholfen die Kanzel herab, ging auf die Konfirmanden zu, die in der ersten Reihe saßen, und forderte sie durch ein Handzeichen auf, sich zu erheben. Nachdem sie einen Halbkreis gebildet hatten, schritt er an ihnen langsam vorbei und strich dabei jedem flüchtig übers Haar, sprach den Segen und eilte hinaus.

 

Alle Beteiligten und Unbeteiligten waren entsetzt. Der Vorsitzende des Presbyteriums trat nach vorn, bat um Entschuldigung, äußerte die Vermutung, dass Pfarrer Denter krank sei. Dann forderte er die Gemeinde auf, zum Abschluss noch das Lied »Wer nur den lieben Gott lässt walten« zu singen. Danach endete die Feier, die eigentlich keine gewesen war. Fortsetzung folgt

 

Hinweis:

 

Die Namen der Personen und die der Dortmunder Ortsteile bzw. Kirchengemeinden wurden geändert. Ansonsten folgt der Bericht den tatsächlichen Vorgängen bzw. den Schilderungen von Zeitzeugen.

 

 

Foto: © KPM, "Förderturm der Zeche Gneisenau in Dortmund"