Feature „Kirche und Politik“, Teil 3/8

 Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Ich habe Rolf Denter nach diesem Vorfall nie mehr getroffen, auch nicht mit ihm telefoniert oder ihm geschrieben. Weil ich nicht wusste, wo er sich seit jener denkwürdigen Konfirmation aufhielt. Denn danach war er untergetaucht.

 

 

Etwa um 1969 hörte ich von dem Gerücht, er hätte sich nach dem Vorfall einer mehrmonatigen Kur unterzogen und sei seither als Religionslehrer an einer Berufsschule in Bochum tätig. Im Herbst 1971 hieß es, er würde wieder sein altes Pfarramt in Dortmund bekleiden, es gäbe aber erneut erhebliche Meinungsverschiedenheiten mit dem Kirchenvorstand. In dem Streit ginge es um die politische Zurückhaltung, die Pfarrern auferlegt sei. Eine Vorgabe, die von der Kirche im Sinne ihres pluralistischen Selbstverständnisses sehr vage formuliert sei und die Denter darum in seinem eigenen Sinn auslege. Dann verstrichen mehr als drei Jahre, während denen ich nichts mehr über ihn hörte. Bis ich Ende April 1975 auf eine Todesanzeige in der WAZ stieß. Seine Frau und sein Sohn beklagten darin, dass Pfarrer Rolf Denter am 22. April in Dortmund den Folgen einer langen Krankheit erlegen sei.

 

Im Juni des folgenden Jahres erzählte mir ein ehemaliger Mitstreiter aus der Ostermarschbewegung, den ich zufällig auf dem Dortmunder Hauptbahnhof wieder traf, dass langjähriger und exzessiver Alkohol- und Tablettenkonsum zu Denters Tod geführt hätten. Dieser Missbrauch sei eine Folge der vielfältigen Repressalien gewesen, denen sich der »rote Pfarrer« über mehr als ein Jahrzehnt hindurch ausgesetzt gesehen hatte. Frau Denter sei wenige Wochen nach der Beerdigung nach Süddeutschland gezogen; Karl Friedrich, der Sohn, der kurz vor der Ordination zum Pfarrer gestanden habe, sei nach Westberlin gegangen und dort Journalist bei der linken Zeitschrift »Konkret« geworden.

 

Jetzt wollte ich doch mehr Informationen über Rolf Denters Leben und sein Wirken als Pfarrer einholen. Denn die so völlig aus dem Ruder gelaufene Konfirmationsfeier, der ich als unbeteiligter Zeuge beigewohnt hatte, war zu einem markanten Punkt meines eigenen Lebens geworden. Wer kann schon mit solchen Erlebnissen aufwarten?

 

Über eineinhalb Jahrzehnte, bis zum Herbst 1991, habe ich recherchiert. Dann endlich nahm aus den unzähligen Mosaiksteinchen ein Mensch Gestalt an, dem ich gern früher und viel öfter begegnet wäre.

 

Die direkten Amtsnachfolger Rolf Denters wollten sich nicht äußern, die späteren kannten ihn gar nicht mehr. So wurde Peter Wilken zu meiner wichtigsten Quelle. Er war von 1965 bis 1995 Inhaber der Friedhofsgärtnerei gleichen Namens in Dortmund-Kirchderne. Die lag direkt gegenüber dem evangelischen Friedhof. Wilken gehörte von 1966 bis 1985 dem Presbyterium, also dem Vorstand, der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinden Kirchderne, Derne-Niederbecker und Derne-Oberbecker als ehrenamtlicher Friedhofsverwalter an und von 1985 bis 1993 der Gesamtsynode des Kirchenkreises Dortmund. Dort arbeitete er im Ausschuss für Öffentlichkeitsarbeit. Seinen Namen fand ich in einem kirchlichen Adressbuch, das auch die Zugehörigkeit zur Gemeinde nannte, in der er lebte. Anfangs verhielt er sich zögernd auf meine Bitte, sich einmal zu treffen, um das Schicksal Rolf Denters aufzuarbeiten. Doch dann willigte er schließlich ein. Unser erstes Gespräch fand im November 1986 auf quasi neutralem Boden, im Restaurant „Altes Bergamt“ in Dortmund, statt.

 

Peter Wilken und Rolf Denter hatten sich gekannt, sogar gut gekannt. Sie waren keine Freunde gewesen, hatten eher gegenläufige kirchliche Positionen eingenommen, jedoch immer Hochachtung voreinander empfunden. Ich erzählte Peter Wilken von meinen wenigen Begegnungen mit Denter, vor allem von der im Alkoholrausch untergegangenen Konfirmation 1967 und meinen bislang vergeblichen Versuchen, etwas über den weiteren Weg Denters in Erfahrung zu bringen.

 

Wilken deutete an, dass Denter noch Jahre nach seinem Tod ein immer wiederkehrendes Thema des Kirchenvorstands war, weil an seiner Person die Trennung zwischen Kirche und Welt mit jedem neuen Vorstandsmitglied und jedem neuen Pfarrer exemplarisch erörtert wurde. Er selbst hätte mehrere Auseinandersetzungen zwischen Pfarrer Denter und Mitgliedern des Presbyteriums als Augen- und Ohrenzeuge mitbekommen. Auch bei der besagten Konfirmation sei er anwesend gewesen. Und er hätte den Todestag Denters aus indirektem Erleben verfolgt. Die Umstände von Denters Tod 1975 seien ebenso skandalträchtig gewesen wie die Einsegnung der Konfirmanden 1967. Er habe im April 1975 mit der Anfertigung eines persönlichen Protokolls begonnen, weil er fürchtete, der örtliche Kirchenvorstand würde in staatsanwaltliche Ermittlungen über den Tod Denters hineingezogen werden. Auch Zeugen, welche die Vorgänge aus unterschiedlicher Nähe beobachtet hatten, habe er befragt und noch bis Anfang 1980 Kontakte mit Karl Friedrich Denter, dem Sohn, unterhalten.

 

Ich habe Peter Wilkens Aufzeichnungen, die er mir gegen seinen ursprünglichen Willen schließlich doch vollständig überlassen hatte, durchgearbeitet; habe Gegenrecherchen angestellt, welche die beschriebenen Sachverhalte im Kern bestätigten, und 1992 die nachfolgende Skizze angefertigt. Fortsetzung folgt

 

Hinweis

Die Namen der Personen und die der Dortmunder Ortsteile bzw. Kirchengemeinden wurden geändert. Ansonsten folgt der Bericht den tatsächlichen Vorgängen bzw. den Schilderungen von Zeitzeugen.

 

Foto: © Evangelische Kirche in Deutschland