Zum 75. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion

Bremen (Weltexpresso) - Sehr geehrter Herr Generalsekretär,
Sie könnten vom Alter her gesehen mein Sohn sein. Sie haben weder eigene Erinnerungen an die Besetzung Ihres Heimatlandes Norwegen durch die deutsche Wehrmacht im Jahr 1940 noch an den Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941.

 Ich war vierzehn Jahre alt, als der so genannte Russlandfeldzug begann. Aus dem Radio hörte ich, Sowjetrussland sei ein Koloss auf tönernen Füßen, der Krieg werde schnell zu Ende sein. Dass ich selbst noch zur Wehrmacht eingezogen werden würde, konnte ich mir nicht vorstellen. Erst recht nicht, dass ich jemals in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten würde. Beides blieb mir jedoch nicht erspart.

Meine Erinnerungen an das grauenvolle Kriegsgeschehen haben mich niemals verlassen. Ich finde es beängstigend und verantwortungslos, dass die Nato unter Ihrem Kommando nur 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt Manöver abhält, noch dazu wenige Tage vor dem 75. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Ihre Begründung, das sei notwendig, weil Russland versuche „mit militärischen Mitteln einen Einflussbereich aufzubauen“ und an der eigenen Grenze eine massive Aufrüstung betreibe, ist überzogen und wenig überzeugend. Wie würden denn die USA reagieren, wenn unter russischem Kommando an ihrer Grenze zu Mexiko ein internationales Manöver mit rund 10 000 Soldaten stattfände? Ein Blick auf die Weltkarte zeigt, wer sich von wem bedroht fühlen muss.

Dass ein so besonnener Mann wie der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier die Nato-Manöver in Osteuropa scharf kritisiert hat, sollte Ihnen zu denken geben. „Was wir jetzt nicht tun sollten, ist durch lautes Säbelrasseln und Kriegsgeheul die Lage weiter anzuheizen“, forderte Ihr sozialdemokratischer Parteifreund in der „Bild am Sonntag“ vom 19. Juni 2016. Er nannte es“ fatal“, den Blick auf das Militärische zu verengen. „Wir sind gut beraten, keine Vorwände für eine neue, alte Konfrontation frei Haus zu liefern.“ Die Geschichte lehre, dass es neben Verteidigungsbereitschaft auch die Bereitschaft zum Dialog und Kooperationsangebote geben müsse. Man habe ein Interesse daran, Russland in eine internationale Verantwortungspartnerschaft einzubinden.

Umso unverständlicher finde ich, dass sich deutsche Truppen an dem Säbelrasseln beteiligen. Anscheinend geht den Verantwortlichen jedes Empfinden dafür ab, wie das auf ein Volk wirken muss, das wie kein anderes unter der deutschen Knute gelitten hat. 27 Millionen Menschen, die meisten davon Zivilisten, sind dem Vernichtungswahn der Nazis zum Opfer gefallen. Dabei hatten die beiden Länder 1939 einen Nichtangriffspakt geschlossen. Insofern war der Angriff besonders heimtückisch. „Die stärkste und am besten ausgerüstete Armee der Welt traf auf die ahnungsloseste“, urteilte die Süddeutsche Zeitung in ihrer Ausgabe vom 18./19. Juni 2016. Dennoch  behauptete der ehemalige Generalmajor der Naziwehrmacht und spätere Generalinspekteur der Bundeswehr, Heinz Trettner, nach seiner Pensionierung, der Krieg gegen die Sowjetunion sei „in erster Linie ein nur schweren Herzens begonnener, aufgezwungener Präventivkrieg“ gewesen. So am 11.März 1997 in einem Leserbrief an den „Bonner General-Anzeiger“.

Als Generalsekretär der Nato sollten Sie, Herr Stoltenberg, wissen,  dass die Nato am 27. Mai jenes Jahres in der Nato-Russland-Grundakte ausdrücklich auf die Stationierung von Kampftruppen in Osteuropa verzichtet hat. Lesen Sie, was die Internationale Juristenvereinigung IALANA aus Anlass des 75. Jahrestages des Überfalls auf die Sowjetunion gefordert hat: Die Nato möge zurückkehren zu ihrer damaligen Aussage, dass die Vertragsparteien keine Gegner seien und die Sicherheit aller Staaten in der euro-atlantischen Gemeinschaft unteilbar sei. Dem schließe ich mich an, weil ich die verbleibenden Jahre meines Lebens in Ruhe und nicht in Angst vor einem Krieg verbringen möchte.


                                                     gez. Kurt Nelhiebel, geb. 1927

 

Foto: Wir hätten gerne das Denkmal für die Gefallenen des 2. Weltkriegs in Buchara/Usbekistan in Zentralasien im Bild gezeigt. Nie werde ich den Schrecken vergessen, den unsere Reisegruppe erlitt, als wir so fern von hier auf diesem Denkmal die Namen von 8 000 Männern aus Buchara lasen, die als Soldaten im 2. Weltkrieg in Europa durch die Deutschen gefallen waren.Was hatten die Einwohner von Buchara mit diesem Krieg zu tun? Und 8 000 Männer. Wir erfuhren dann, daß es in dieser Stadt in jeder Familie Tote gab.

Leichter im Bild verfügbar ist das oben gezeigte Heldendenkmal der Roten Armee (auch Russendenkmal, Befreiungsdenkmal, Siegesdenkmal, aber auch Erbsendenkmal) am Wiener Schwarzenbergplatz, dessen Soldatenstandbild auf der Spitze des Denkmals hier im Bild ist. Es wurde 1945 zur Erinnerung an rund 17 000 bei der Schlacht um Wien gefallene Soldaten der Roten Armee errichtet. Auch dies eine ungeheuerliche Zahl. Die Redaktion