Britannien und Europa nach dem Votum für den BREXIT

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Ihr jeweiliges Unvermögen hat sie vereint. Denn die Zustimmung zum Ausstieg kam mehrheitlich aus Gruppen, die völlig Gegensätzliches, ja Disparates vertreten.


„Der Starke ist am mächtigsten allein.“ Diese Äußerung Wilhelm Tells aus Schillers gleichnamigem Drama scheinen Britanniens Ober- und Unterklasse auf sich bezogen zu haben, als sie mehrheitlich für den Ausstieg aus der EU votierten. Es könnte sein, dass sie damit einer grandiosen Selbstüberschätzung erlegen sind. Das zeigt sich bereits beim offenkundigen Zögern, dem Volksentscheid nunmehr Konsequenzen folgen zu lassen.

So hat jene Oberschicht für den BREXIT gestimmt, die am irrealen Traum britischer Weltherrschaft festhält und eine Kontrolle zurückgewinnen will, die bereits seit mehr als einem halben Jahrhundert unwiderruflich verloren ist, weil die Kolonialmächte politisch und moralisch abgewirtschaftet haben.

Für die Normal- und Schlechtverdiener, die ihre Situation seit dem frühen 20. Jahrhundert nicht mehr durchschauen (was unter anderem auf ihre systematische Verdummung durch das unzureichende britische Schulsystem zurückzuführen ist) und die auf eine obrigkeitshörige Labour-Party setzen, ist Europa die Quelle allen Elends. Eine Fehleinschätzung, die vor allem von der Oberschicht durch die Verbreitung von populären Lügen unterstützt wird. In ähnlicher Weise verhindern Adel und Großbürgertum durch ihre widerwärtige Charity-Unkultur (= Almosen aus den Westentaschen der Reichen statt Sozialstaat), dass eine gerechte Gesellschaft auf der britischen Insel entstehen kann. Die Verhinderung einer sozialen Marktwirtschaft nach deutschem Vorbild (die dort mittlerweile allerdings durch Neoliberalismus und Sozialdemokratie infrage gestellt wird) liegt auch im besonderen Interesse der USA, obwohl Roosevelts „New Deal“ exakt das einmal vorsah.

Hingegen hat sich insbesondere die Schicht aus gut Verdienenden, die mehrheitlich dem Neoliberalismus anhängen, für Europa ausgesprochen, weil sich ohne diese Bindung an das Festland das Geschäftsmodell der Londoner Finanzwelt und ihrer Kreise nicht aufrechterhalten lässt. Das entspricht egoistisch-kapitalistischen, aber keineswegs demokratisch-emanzipativen Interessen.

Als Westeuropäer, der sich immer noch in die Tradition der Französischen Revolution hineingestellt sieht und der die Gesellschaftstheorien von Marx, Engels oder Herbert Marcuse (um nur einige zu nennen) für nach wie vor relevant hält, vermag ich in Großbritannien kaum Verbündete für die eigene Sicht zu finden.

Aber ebenso wenig sehe ich in den sich verselbstständigt habenden Brüsseler Institutionen das Modell eines solidarischen Europas. So war es eine Schande, Polen und die baltischen Staaten in die Gemeinschaft aufzunehmen, ohne von diesen den unbestreitbaren Nachweis einer tief verankerten Demokratie zu verlangen. Das derzeitige Säbelrasseln der NATO an Europas neuer Ostgrenze erscheint mir als das Menetekel einer leichtfertig aufs Spiel gesetzten Zukunft.

Nationalismus, neoliberaler Kapitalismus, soziale Ungerechtigkeit, religiöser Fundamentalismus und Rassismus stehen einer europäischen Neubesinnung und einem entsprechenden Neuaufbruch im Wege. Das Feuer zu einer wirklichen Umkehr wird nur von Staaten und Gesellschaften geschürt werden können, die Europa als Summe geistes- und sozialgeschichtlicher Errungenschaften und nicht als Wirtschaftsgemeinschaft verstehen.