"Einsame Wölfe" oder "Soldaten des Kalifats"?

Matthias Küntzel

Hamburg (Weltexpresso) - Am 12.?Juni tötete Omar Mateen 49 Menschen im Nachtclub »Pulse« in Orlando, am 14.?Juni Larossi Abballa ein Paar in der Nähe von Paris. Obwohl sich der »Islamische Staat« (IS) zu beiden Verbrechen bekannte, haben die nachfolgenden Debatten die Unsicherheit und die Ratlosigkeit im Umgang damit eher verstärkt.


Die Unsicherheit hat mit dem antimuslimischen Populismus der Trumps, Wilders und Gaulands zu tun: »Spielt, wer den Terror mit dem Islam in Verbindung bringt, nicht einem Rassisten wie Donald Trump in der Hände?« fragen die einen. »Sabotiert, wer diesen Zusammenhang leugnet, nicht die notwendige Gegenwehr?« erwidern die anderen.

Die Ratlosigkeit hängt mit der Wahrnehmung der jüngsten Verbrechen zusammen. Viele bezweifeln, dass in Orlando tatsächlich der IS zugeschlagen hat. Man habe es mit »einsamen Wölfen« zu tun, die »eher mit Amokläufern« zu vergleichen seien, schreibt beispielsweise die Zeit. Es handle sich um Terror, der »nichts will«, dessen Ziel also »der pure Schrecken« sei.



Blutiger Ramadan

Wer so argumentiert, klammert die Erklärungen des IS aus – Erklärungen, in denen er das Ziel der Massaker klar und zwecklogisch benennt: Sie sollen die Regierungen der Anti-IS-Koalition dazu nötigen, ihre Luftschläge auf den IS im Irak und in Syrien zu beenden. Eben deshalb rief IS-Sprecher Sheikh Abu Muhammad al-Adnani im Mai die IS-Sympathisanten im Westen dazu auf, nicht länger nach Syrien zu strömen, sondern sich als »Soldaten des Kalifats« aufs Blutvergießen im eigenen Land zu verlegen.

Al-Adnanis Erklärung umfasst zehn Seiten und ist mit Koran- und Hadithverweisen gespickt. Sie beginnt mit einer Attacke auf die Juden und auf Barack Obama, »dem Maulesel der Juden«. Sie beschreibt anschließend die Angriffe, die der IS zu erleiden hatte und ruft schließlich dazu auf, den diesjährigen Fastenmonat Ramadan (6. Juni bis 6. Juli) blutig zu begehen:

    »Lasst uns einen Monat des Leidens für die Ungläubigen überall bereiten. Erschreckt und terrorisiert sie solange, bis jeder Nachbar Angst vor seinem Nachbarn hat. Wisset, dass innerhalb der Länder der kriegerischen Kreuzfahrer sogenannte Unschuldige nicht existieren. Wisset, dass, wenn ihr euch auf sogenannte Zivilisten konzentriert, wir das besonders schätzen, weil es effektiver ist: Es fügt ihnen mehr Schaden und Schmerz zu und schreckt sie besser ab. So geht voran, oh ihr Märtyrer, wo immer ihr seid.« (https://pietervanostaeyen.files.wordpress.com/2016/05/al-hayat-that-they-live-by-proof.pdf)

Für den IS ist der Terror also kein Selbstzweck, sondern eine gezielt eingesetzte Waffe im religiösen Krieg. Taktisch soll sie die Staaten, die den IS militärisch angreifen, zu einem Kurswechsel veranlassen und strategisch die globale Unterordnung unter Allah (al-Adnani: »We will fight, and fight, and fight, until the religion is entirely for Allah«) auf den Weg bringen.

Larossi Abballa, der einen Polizeibeamten und dessen Lebensgefährtin bei Paris umbrachte, deutete das taktische Ziel in seinem Abschiedsvideo an: »Mein Angriff ist die Konsequenz aus euren Aktionen. Ihr habt die Türen zum Kalifat (d.h. die Auswanderung in IS-Gebiete, Anm. d. A.) verschlossen, also haben wir die Tür des Jihad in eurem Land geöffnet. Dachtet ihr, wir würden hier herumsitzen und warten?« Gleichzeitig hob er die Todesliebe – das Kennzeichen dieses religiösen Kriegs – hervor:

    »Schau nur, Muslim, alles was du tun musst, ist voranzugehen und zu sterben – dann wirst du mit deinem Propheten im Paradies sein. Von da an wird es keinen weiteren Ärger geben, keine weiteren Herausforderungen, nur Vergnügen ohne Ende. Selbst wenn uns Allah 1 000 oder 100 000 Lebensjahre gegeben hätte, wären diese im Vergleich zum Jenseits bedeutungslos. Das Jenseits ist unendlich. Möge mich Allah akzeptieren, inshallah.« (MEMRI Special Dispatch No. 6475, 15. Juni 2016)

Von dieser Todesliebe war auch Omar Mateen infiziert, der 49 Besucher eines bekannten LGBT-Clubs in Orlando erschoss. »Möge mich Allah akzeptieren« – lautete auch hier des Attentäters letzter Wunsch.

Auch wenn er nach bisherigem Wissen keine IS-Ausbildung durchlief, war er kein einsamer Wolf, sondern seit langem in islamistischen Netzwerken zu Hause: Nachdem er sich – radikalisiert durch islamistische Internet-Portale – gegenüber Kollegen zu al-Qaida und Hisbollah bekannt hatte, besuchte ihn bereits 2013 das FBI. 2014 geriet Mateen erneut ins Visier der Sicherheitsbehörden, da er mit dem ersten Amerikaner, der in Syrien ein Selbstmordattentat beging, in Verbindung stand. Am Tag des Massakers schwor er dem »Kalifen« des IS, Abu Bakr al-Baghdadi, Gefolgschaft. Fortsetzung folgt


Info: Matthias Küntzel schrieb seinen Beitrag original in Jungle World Nr. 25