Zu den Ereignissen in der Türkei seit Freitagabend
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Die Türkei unter Erdogan entwickelt sich in eine Richtung, die weder europäische Demokratien noch die Großmächte USA und Russland gutheißen können.
Kurt Nelhiebel hat in seinem treffenden Kommentar „Putsch gescheitert - alles gut?“ (Weltexpresso vom 16. Juli) auf das ambivalente bis gestörte Verhältnis zwischen den europäischen Demokratien und der mittlerweile von Erdogan despotisch regierten Türkei hingewiesen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt mag es verfrüht sein, den (zumindest vorläufig) gescheiterten Militärputsch einzuordnen. Doch es gibt eine Reihe von Voraussetzungen, die entweder allein oder als Interessenbündnis zu ihm geführt haben könnten.
Erdogan strebt erkennbar ein neues osmanisches Reich, wenn auch in engeren Grenzen als denen, die bis zum Ende des Ersten Weltkriegs galten, an. Dessen inneren Zusammenhalt als bindende Kraft könnte nur ein konservativ bis fundamentalistischer Islam gewährleisten. Denn die sozialen Gegensätze des Landes, die vom Gegensatz zwischen laizistischem und traditionell-islamischem Staatsverständnis einschließlich der sozialen Nebenerscheinungen begleitet werden, sowie der Kurdenkonflikt begünstigen eher eine Spaltung der Türkei.
Ähnliches gilt auch für eine Annäherung an die Europäische Union, die zwar wirtschaftliche Stabilität garantieren, aber auch unerwünschte demokratische Werte nach Erdogan-Osmanien exportieren könnte. Ein politisierter Islam führt aber notwendigerweise zu einer Komplizenschaft mit anderen streng-islamisch geprägten Staaten des Nahen und Mittleren Ostens. Hier sind der im Entstehen begriffene Islamische Staat (im direkten oder indirekten Verbund mit Al Kaida und Taliban) zu nennen, aber auch Saudi-Arabien. Und irgendwo im Hintergrund lauert zudem der Iran, selbst wenn die Gegensätze zwischen Sunniten (Saudi-Arabien) und Schiiten (Iran) einem Bündnis entgegen zu stehen scheinen.
An einer weiteren Ausbreitung des islamischen Fundamentalismus mit seinen weltweit wahrnehmbaren politischen Forderungen und terroristischen Begleiterscheinungen haben die USA kein Interesse. Denn die von ihnen selbst durch den Irakkrieg 2003 initiierte Destabilisierung der Region kollidiert längst mit eigenen Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen. Hinzu kommt die Sicherheitsverpflichtung gegenüber Israel.
Auch Russland wird einer unkontrollierbar werdenden Entwicklung nicht zusehen wollen. Es kämpft selbst mit islamistischen Sezessionsbestrebungen im eigenen Land.
In der Türkei stehen sich die Verfechter des laizistischen Staats, die vor allem in den gebildeteren Schichten Anhänger haben, und die einer unreflektierten Volksfrömmigkeit zuzurechnenden Bauern, Kleinhändler sowie Arbeitern und Angestellten der unteren Hierarchie gegenüber.
Das Militär stützte bislang die säkulare, sich auf Atatürk berufende Republik, ohne dabei die demokratischen Institutionen als besonders schützenswert zu erachten, wie anhand der früheren Militärputsche nachzuweisen ist.
Zusätzlich wird die Lage durch den Kurdenkonflikt erschwert, dessen politische Lösung von Erdogan seit zwei Jahren gezielt hintertrieben wird.
Zu einem Putsch hätten viele Beteiligte plausible Gründe gehabt - und sie haben sie vermutlich nach wie vor. Es ist aller Wahrscheinlichkeit nach davon auszugehen, dass sogar ein Scheitern ins Kalkül gezogen wurde. Ein völlig ungehemmter, von Rache bestimmter Erdogan könnte Gewähr dafür sein, dass eine Entwicklung einträte, die alle Bedingungen der klassischen griechischen Tragödie erfüllte: Der Tyrann führt sein Schicksal gerade dadurch herbei, indem er es mit allen Mitteln abzuwenden trachtet.
Foto: Besetzte Bosporus-Brücke, Kopie eines TV-Bildes der ARD