Ein Zeitzeuge über die Olympischen Spiele in Berlin 1936

Conrad Taler

Bremen (Weltexpresso) - So wie die Olympischen Spiele Rio de Janeiro jetzt berauschen, so versetzten sie 1936 Berlin in einen Taumel der Freude. So mutig wie die Brasilianer, die den ersten Mann im Staate bei der Eröffnung im Stadion auspfiffen, waren die Deutschen nicht, ganz im Gegenteil, obwohl zur selben Zeit Tausende ihrer Landsleute in Konzentrationslagern und Gefängnissen saßen. Ist es angemessen, sich der Gepeinigten zu erinnern? Ich denke, ja.


Seit ich einen Menschen  kennen gelernt habe, der drei Tage vor dem großen Ereignis vom Volksgerichtshof in der Olympiastadt  zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, sind meine Erinnerungen an die Spiele von damals noch enger verknüpft mit der Erinnerung an die Opfer des Naziterrors  und deren Erbe. Eines von ihnen, der Mechaniker Alfred Hausser, war 24 Jahre alt und hatte das Leben, wie seine zehn Mitangeklagten, noch vor sich.  Zwei Tage lang habe ich ihn 1994 für eine  Rundfunksendung interviewt. Da hatte er die Achtzig bereits überschritten. Hellwach saß er mir in seiner Stuttgarter Wohnung gegenüber und ließ die Stationen seines Lebens noch einmal lebendig werden. Angesprochen auf jene Tage in Berlin, antwortete er laut Tonbandmitschnitt:

„Als der Prozess zu Ende war und wir dann von Moabit in ein kleines Untersuchungsgefängnis nach Charlottenburg kamen und da ein bissel raus sehen  konnten und dieses Fahnenmeer . . .Also, das war auch wieder so ein – möchte ich mal sagen – ein Wechselbad zwischen heiß und kalt. Wir, mit 15 Jahren Zuchthaus auf dem Buckel, werden  durch die Stadt gefahren, wo alles jubelt. Ich habe diese Bilder noch so vor Augen, als wär’s gestern gewesen, weil einfach der Kontrast zwischen meiner eigenen Situation und zwischen dem, was um mich herum war, so groß war, dass man da wieder mit sich selber gekämpft hat und sich gesagt hat: Mensch, du sitzt hier fest, nicht wahr, alles jubelt – und, gut . . . Das sind diese Ereignisse gewesen, wo man immer wieder  geprüft wurde und am Ende zu dem Ergebnis kam: also gut, dieser Jubel in Berlin ist vergänglich. Hauptsache ist, du darfst dich nicht selbst aufgeben; denn das ist meine entscheidende Lehre aus zehn Jahren Haft: nur der ist verloren, der sich selbst aufgibt.“

Weil der Volksgerichtshof Alfred Hausser als „entschlossenen Kommunisten“ und „unbelehrbaren Feind des nationalsozialistischen Staates“ bezeichnet hatte, wurde Einzelhaft angeordnet und für eineinhalb Jahre absolutes Sprechverbot über ihn verhängt. „Nun muss man sich Einzelhaft einmal konkret vorstellen“, erinnert sich mein Gegenüber. „Das heißt Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat, Jahr um Jahr in einer Zelle – drei Meter lang, zwei Meter breit, oben über Kopfhöhe ein Fenster, wo dann ein Sonnenstrahl hereinkommt. . . Und da habe ich gemerkt, dass ich in eine kritische Phase gekommen bin . . . So bin ich auf die Klassiker gestoßen, habe mich vor allem sehr, sehr lange und eingehend mit Goethe beschäftigt, insbesondere mit ‚Faust’. Dann habe ich angefangen, ganze Passagen auswendig zu lernen. Bin in der Zelle auf und ab gegangen und habe deklamiert…“  Alfred Haussers Blick geht zu den Bergen der Schwäbischen Alb am Horizont. In die Stille hinein hörte ich ihn sagen:  „In Lebensfluten, im Tatensturm/ wall ich auf und ab,/webe hin und her!/Geburt und Grab,/ein ewiges Meer,/ein wechselnd Weben,/ein sausend Beben,/so schaff ich am sausenden Webstuhl der Zeit/und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.“ Mir lief es kalt über den Rücken.

Auf den Gefangenen warteten aber noch Prüfungen ganz anderer Art. Am 23. August 1939 schließen Hitler-Deutschland und die Sowjetunion einen Nichtangriffspakt, dieselbe Sowjetunion, die als einziges Land die Teilnahme an den Olympischen Spielen von 1936 abgesagt hatte. Den Kommunisten Hausser trifft die Nachricht wie ein Keulenschlag: Das Land seiner Hoffnung, wichtigster Verbündeter im Kampf gegen die Faschisten, im Bunde mit Hitler! Der Gefangene erfährt es von einem Wachtmeister: „Jetzt hat euch der Stalin verraten. Jetzt sitzt ihr in der Scheiße“, habe er gehöhnt. Hausser hofft, dass jetzt eine Amnestie kommen werde. Er hoffte vergebens. „Da vergingen Tage und Wochen, und es geschah nix. Und uns war klar: Wir profitieren von diesem Ereignis null und nichts.“ So war es auch. Die Befreiung erlebte Hausser im April 1945 im Gefängnis Wolfenbüttel – neun Jahre nachdem der Jubel um die Olympischen Spiele 1936 in Berlin längst verklungen  war und neue Herausforderungen auf ihn warteten. Doch das ist eine andere Geschichte.

 

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Alfred Hausser (1912 bis 2003), (c) dpa

Info:

(Mehr dazu in Conrad Talers Lebenserinnerungen, die  Ende des Jahres unter dem Titel „Gegen den Wind“ im Kölner PapyRossa Verlag erscheinen werden.)