Gedanken über die Vollverschleierung muslimischer Frauen
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Der Bundesinnenminister hat ein partielles Verbot der Vollverschleierung angekündigt.
Es soll im öffentlichen Dienst, in Kitas, Schulen, vor Gericht, im Straßenverkehr und bei Demonstrationen gelten. Nach Meinung der Linken und der Grünen ist die Auseinandersetzung um die Vollverschleierung muslimischer Frauen eine Pseudodebatte, die von den tatsächlichen Sicherheitsproblemen angesichts religiös motivierter Gewalt ablenke. Und auch die SPD steht anscheinend nicht mit Überzeugung hinter dem Beschluss der Großen Koalition.
Ja, man kann den Eindruck gewinnen, dass um des Kaisers neue Kleider gestritten wird. Also um eine Garderobe, die man nur dann wahrnimmt, wenn man sie bewusst sehen will, der man aber in der Realität extrem selten begegnet. In Frankfurt sind mir vollverschleierte Frauen, also solche, die sich unter einem Niqab verbargen, in der letzten Zeit nur zweimal deutlich aufgefallen. Zum einen im Umfeld einer Aktion der Salafisten in der Innenstadt, zum andern als Gefolge reicher arabischer Männer, die offensichtlich im Bau befindliche Luxuswohnungen besichtigten. Diese Beispiele sind nicht beweiskräftig genug, um daraus allgemeingültige Schlüsse ziehen zu können. Dennoch erscheinen mir diese Begegnungen als durchaus symptomatisch für das sich hinter dem Schleier verbergende Problem. Wobei sich die Problematik der Sache vermutlich nur dem erschließt, der radikal demokratisch denkt, sozialistisch infiziert ist und für den die Welt nur als eine säkulare vorstellbar ist. Denn lediglich unter diesen Prämissen erscheinen Vollverschleierungen als Attribute sowohl des religiösen Fanatismus als auch als solche der Unterwerfung. Und in beiden Fällen waren es erkennbar Männer, die diese Kleiderordnung bestimmten.
In Wien konnte ich vor zwei Jahren während einer Urlaubswoche täglich größere Gruppen von Frauen mit Niqab beobachten, die sich teilweise rücksichtslos gegenüber den anderen Passanten ihren Weg durch die vollen Einkaufsstraßen und Läden bahnten. Ich fühlte ich mich zwar nicht bedroht, aber doch als zeitweilig in einer anderen Welt angekommen. Meine eigentlich vorhandene Toleranzbereitschaft sank deutlich in den Minusbereich.
Am Ende der 60er Jahre, als die Studentenproteste zumindest bei den Nachdenklichen erste Anzeichen eines neuen und kritischen Bewusstseins hervorgebracht hatten, hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass sich vermeintlich religiöse Symbole, die die Unterwerfung des Menschen unter die verschiedensten Formen von Herrschaft widerspiegeln, eines Tages direkt vor meinen Augen manifestieren würden und ich ihnen nur dadurch ausweichen, gar entfliehen könnte, wenn ich ihnen zumindest Teile des öffentlichen Raums überließe. Ich meine damit sowohl die Frauen, welche ihr Sklavinnendasein durch das Tragen von Kopftüchern akzeptierend dokumentieren als auch jene, die ihre Persönlichkeit hinter Vollschleiern, Niqab oder Burka, verbergen.
Die Verfassung der Bundesrepublik garantiert mir in Artikel 1, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Mithin geht das Grundgesetz von der Selbstachtung sowie der Achtbarkeit jedes Menschen aus. Ausgrenzungen, sei es aus religiösen, rassistischen oder anderen nicht akzeptablen Motiven, reduzieren diese Achtung, binden sie an die Zugehörigkeit zu fragwürdigen Gruppen. In der Regel sind diese durch ein unhistorisches Glaubensverständnis und/oder autoritäre politische Weltbilder gekennzeichnet. Einerseits verlassen sie bewusst den demokratischen Sektor dieser Gesellschaft; andererseits dringen sie in diesen ein, um ihnen unbedacht zugestandene Freiräume zu behaupten und zu erweitern.
Gegen faschistische Parteien hilft unter Umständen ein Verbot durch das Bundesverfassungsgericht. In der religiösen Verschleierung kommt die für den Faschismus typische Menschenverachtung ebenfalls zum Ausdruck. Doch wie kann sie verbannt werden? Berufen sich doch sowohl die Befürworter als auch manche Kritiker auf das grundgesetzlich verbriefte Recht des religiösen Bekenntnisses.
Aber deckt sich jede religiöse Überzeugung zwangsläufig mit dem Freiheitsgebot der Verfassung? Sind das Behaupten eines (mitunter unbarmherzigen) Gottes und das Fürwahrhalten antisozialer (nämlich feudalstaatlicher) Offenbarungen eine ausreichende Legitimation? Falls ja, verkäme Religion zum legalen Schlupfloch für Antidemokraten. Im konkreten Fall ist die Verschleierung von Frauen Wesensäußerung einer besonders konservativen und fundamentalistischen Form des Islam, obwohl Kopftuch und Schleier bekanntlich anderen Ursprungs sind und instrumentalisiert werden. Deswegen plädiere ich für den Konflikt und für sein Austragen mit den Mitteln des Rechtsstaats.
Dabei verwerfe ich das Religiöse keineswegs. Judentum, Christentum und Islam haben in der Kulturgeschichte der Menschheit immer wieder zu humanen Errungenschaften beigetragen. Im Alten Testament, der Hebräischen Bibel, kann man in den prophetischen Büchern nachlesen, wie heftig um die vermeintlich von einem Gott gegebene Ordnung (eine Religion, ein Volk, ein Land) gestritten wurde. Auch innerhalb des Islam gibt es längst andere, reformierte Strömungen. Beispielsweise den Liberal-islamischen Bund in Deutschland. Es ist kein Grund ersichtlich (außer Unkenntnis bei den Verantwortlichen, insbesondere beim Hessischen Kultusminister), diesen Bund nicht als Körperschaft des öffentlichen Rechts anzuerkennen und mit ihm den Islamunterricht in allgemeinbildenden Schulen zu regeln. Man muss nicht mit Erdogans fünfter Kolonne, DITIB, verhandeln. Denn dessen Ziel ist klar gegen das Demokratieverständnis dieses Landes gerichtet, wie nicht nur die aktuelle Entwicklung deutlich macht.
Wer muslimische Frauen vor sich selbst befreien will, muss sie vom Einfluss ihrer Männer und Söhne befreien. Das funktioniert nur, wenn der in der Schule gelehrte Islam andere Akzente setzt als die innerhalb der Familien weitergegebene tradierte schlichte Frömmigkeit. Verschleierungsverbote führen mutmaßlich nicht zu diesem Ziel.
Auch Katholizismus und Luthertum erhielten seit den 60er Jahren durch einen liberalen Religionsunterricht, der an die historisch-kritische Bibelforschung und ein neues theologisches Denken über „die Sache mit Gott“ (ein wegweisendes Buch von Heinz Zahrnt für den interessierten Laien) anknüpfte, eine aufklärerische und säkulare Tendenz. Denn, so lautete ein anderes Buch aus den frühen 60ern, „Gott ist anders“ (John A. T. Robinson).
Foto: Niqab (c) Le Soleil