Ein Nachruf auf Ernst Nolte (11. 1. 1923 – 18. 8. 2016)

Alexander Martin Pfleger

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Laut Ernst Jünger strebt die Demokratie einen Zustand an, worin jeder jedem eine Frage stellen dürfe – dumm nur, wenn man sich anheischig macht, Fragen zu beantworten, an deren Beantwortung offenbar am allerwenigsten diejenigen interessiert sind, die sie gestellt haben: Dies lehrt uns das Beispiel Ernst Noltes.


Nolte, der seine Laufbahn als Historiker mehr oder minder „nachträglich“, als ursprünglich von der Philosophie herkommender Seiteneinsteiger begann, nachdem die Universität Köln 1964 sein ein Jahr zuvor erschienenes Buch „Der Faschismus in seiner Epoche“ als Habilitationsschrift anerkannt hatte, setzte sich Mitte der 1980er Jahre mit der Frage auseinander, wie Auschwitz habe möglich sein können.

Wobei diese Formulierung mißverständlich zu nennen ist, denn eines der Grundthemen Noltes war stets die Analyse des Faschismus und des Nationalsozialismus als bewußte Reaktion auf den Marxismus und die aus ihm resultierenden politischen Bewegungen; so auch in jenem „Vergangenheit, die nicht vergehen will. Eine Rede, die geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte“ betitelten Beitrag in der FAZ vom 6. 6. 1986, welcher ursprünglich als Rede für die Frankfurter Römerberggespräche gedacht war, von denen man Nolte dann aber aus ungeklärten Gründen wieder auslud, und an welchem sich der sogenannte Historikerstreit entzünden sollte.

Liest man im Abstand von 30 Jahren diesen Schlüsseltext, so muß man sich in fast jedem Augenblick vor Augen führen, daß man ein historisches Dokument und keinen aktuellen Diskussionsbeitrag in Händen hält: Es drängt sich geradezu der Eindruck auf, der Verfasser antworte auf zuvor von anderen geäußerte Standpunkte, habe bereits sämtliche Debatten um Begriffe wie „Schlußstrich“, „Relativierung“, „Rechtfertigung“ und „Gleichsetzung“ hinter sich und wage sich nun übervorsichtig in die Nähe dieser kontaminierten Begriffe, die er am liebsten komplett umschiffen würde, was aber kaum möglich ist.

Noltes hier und andernorts entwickelter Ansatz stellt Hitler als „erschrockenen Bürger“ (ein Reflex auf Jakob van Hoddis und dessen „Weltende“?) vor, der die Schrecken der bolschewistischen Revolution, den „weißen Terror“ und schließlich die Stalin´schen Säuberungen vor Augen hat – die realen Schrecken, vielmehr aber noch die übersteigerten Darstellungen antisowjetischer Propagandaschriften, denen er womöglich umso bereitwilliger Glauben zu schenken bereit war, als sie seinen bereits vorhandenen Ressentiments entgegenkamen, und die ihn letztlich verantwortlich für Verbrechen bislang nicht gekannten Ausmaßes gegen die Menschlichkeit werden ließen, angesichts derer die perhorreszierten Greueltaten der Bolschewiki verblassen mußten.

Mit am markantesten führte dies Nolte am Beispiel des früheren deutschen Konsuls in Erzerum, Max Erwin von Scheubner-Richter aus, „der später einer der engsten Mitarbeiter Hitlers war und dann im November 1923 bei dem Marsch zur Feldherrnhalle von einer tödlichen Kugel getroffen wurde“ und heute nur noch als einer der Widmungsträger des ersten Bandes von „Mein Kampf“ bekannt ist. Scheubner-Richter wurde 1915 Zeuge des Völkermords an den Armeniern und intervenierte vergeblich sowohl bei den zuständigen türkischen Behörden, als auch in Berlin.

„Niemand weiß,“ so Nolte, „was Scheubner-Richter getan oder unterlassen haben würde, wenn er anstelle von Alfred Rosenberg zum Minister für die besetzten Ostgebiete gemacht worden wäre. Aber es spricht sehr wenig dafür, daß zwischen ihm und Rosenberg und Himmler, ja sogar zwischen ihm und Hitler selbst ein grundlegender Unterschied bestand.“ Dann aber müsse man fragen: Was konnte Männer, die einen Völkermord, mit dem sie in nahe Berührung kamen, als "asiatisch", als von wölfischer Wildheit, „fern von europäischer Zivilisation“ empfanden, „dazu veranlassen, selbst einen Völkermord von noch grauenvollerer Natur zu initiieren?“

Zugleich, so sollte man ergänzend hinzufügen, habe das Vorbild oder besser: Das Beispiel Stalins Hitler als Gradmesser gedient, einzuschätzen, wie weit man selber gehen könne, ohne eine Einmischung ausländischer Mächte befürchten zu müssen.

Die nationalsozialistische Vergangenheit habe gegenüber anderen „Vergangenheiten“ nichts von ihrem Bedrängenden verloren – vielmehr scheine sie „immer noch lebendiger und kraftvoller zu werden, aber nicht als Vorbild, sondern als Schreckbild, als eine Vergangenheit, die sich geradezu als Gegenwart etabliert oder die wie ein Richtschwert über der Gegenwart aufgehängt ist.“

Dies stellt Nolte fest, ohne zu werten oder gar zu polemisieren – und die Vorstellung einer Rechtfertigung des Holocaust durch den „Archipel GULag“ liegt ihm denkbar fern; wie auch die Frage, ob dieser ursprünglicher als jener gewesen sei, nicht auf eine moralische Wertung zielte.

Wohl aber plädiert Nolte dafür, die nationalsozialistische Vergangenheit nicht als „Mythologem“, sondern wie jede andere Art von Vergangenheit zu behandeln, sie wissenschaftlich zu erschließen und in Relation zu anderen historischen Gegebenheiten zu setzen. Dieses „kollektivistische Denken“, das sich allein auf die Schrecken des Nationalsozialismus fokussiere, sei zwar in seinen Grundlagen, etwa in der Furcht vor dem Wiedererstarken entsprechender politischer Gruppierungen oder der Möglichkeit erneuter Untaten desselben Charakters, nur allzu verständlich, aber auch – unwissenschaftlich.

In diesem, und wirklich nur in diesem Sinne, spricht sich Nolte, der zuvor bereits die Problembehaftetheit des Begriffs „Schlußstrich“ erörtert hatte, für die Ziehung eines solchen aus – wohl wissend, daß damit nicht nur dem kühl und rational recherchierenden und registrierenden Wissenschaftler gedient sein mag: Selbstverständlich weiß er, daß dann auch wieder „Gedankenlosigkeit und Selbstzufriedenheit um sich greifen könnten. Aber das muß nicht so sein, und Wahrheit darf jedenfalls nicht von Nützlichkeit abhängig gemacht werden. Eine umfassendere Auseinandersetzung, die vor allem im Nachdenken über die Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte bestehen müßte, würde“ die nationalsozialistische Vergangenheit zwar ebenso zum "Vergehen" bringen, wie es jeder Vergangenheit zukomme, aber – dialektischer Schluß! – „sie würde sie sich gerade dadurch zu eigen machen.“

Genutzt haben diese Differenzierungen, insbesondere die entscheidende Unterscheidung zwischen „Gleichsetzung“ und „Gleichbehandlung“, Nolte – nichts. Im Zuge der Auseinandersetzungen mit Habermas und anderen geriet er rasch in die Rolle des Verharmlosers, gar des Rechtfertigers der NS-Verbrechen, auch wenn dies für ihn nie zur Debatte stand. Galt er früher einigen mißverständlicherweise als Linker, da manche seiner Schriften den Begriff „Marxismus“ im Titel führten, so sollte er nun über Nacht zum Rechten mutiert sein.

Im Rückblick präsentiert sich der gesamte Historikerstreit weniger als ein sachbezogener Disput unter Intellektuellen, sondern vielmehr als wildes Draufschlagen einiger weniger Etablierter auf einen vermeintlichen Übeltäter, der den guten Ton verletzt habe. Letztlich handelt es sich um eine Tragödie, die in dieser Form gar nicht hätte stattfinden dürfen und die hätte vermieden werden können, hätte man Nolte genau gelesen und nicht einen Streit um Selbstverständlichkeiten entfacht, die niemand in Frage stellte – sonst wären es ja auch keine Selbstverständlichkeiten.

Noltes Ruf litt erheblich unter dem Faktum, als „Unterlegener“ aus diesem Kampf hervorgegangen zu sein – einem Kampf, den er nie wollte. Zeitweilig war er in der deutschsprachigen Fachwelt isoliert, und Chaoten zündeten gar sein Auto an. Nicht zuletzt war es jedoch das europäische Ausland, das seinen Rang auch weiterhin bestätigte und in den vergangenen Jahren viel zu dessen erneuter Festigung beitrug.

Doch kann von einer öffentlichen Rehabilitation in deutschen Landen noch lange nicht die Rede sein. Angela Merkel etwa, weil ihr der Fall offensichtlich zu heiß erschien, sah im Jahr 2000 davon ab, die Laudatio auf ihn zu halten, als ihm die CDU-nahe Deutschland-Stiftung den Konrad-Adenauer-Preis verlieh – übrigens gemeinsam mit Otfried Preußler; kein Ruhmesblatt für die spätere Flüchtlingskanzlerin.

Ein witziges Photo zeigt Preußler und Nolte, beides Kinder des Jahrgangs 1923, jeweils mit einem Hauptwerk des anderen in Händen nebeneinander – den jüngeren mit „Feindliche Nähe“, Noltes Briefwechsel mit dem französischen Historiker François Furet, den älteren mit dem „Räuber Hotzenplotz“.

Die Laudatio hielt schließlich Horst Möller, der damalige Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, dessen Habilitationsschrift Nolte mitbegutachtet hatte – dies rief einerseits wütende Proteste auf den Plan, führte aber andererseits auch zur Feststellung, in einer Laudatio sei kaum ein größeres Maß an Distanzierung möglich gewesen.

Als im Februar 2014 Dirk Kurbjuweit im SPIEGEL (Nr. 7 / 2014 vom 10. 2. 2014) in seinem Essay „Der Wandel der Vergangenheit“ durchaus positiv, aber insgesamt noch eher fragend-distanziert auf Noltes Positionen rekurrierte, löste auch dies nicht geringe Empörungsstürme aus.

Nolte, der kein leidenschaftlicher Polemiker ist und stilistisch eher zur Unterkühlung, zum britischen Understatement tendiert, ließ sich seinerseits im Zuge der Auseinandersetzungen um seine Person und sein Werk vor allem während der 1990er Jahre durchaus zu Polemiken hinreißen, die ihm nicht gut taten. Nicht zuletzt sein großes Werk über den Islamismus, den er neben Faschismus und Kommunismus als dritte radikale Widerstandsbewegung wider die säkulare Moderne wertet, leidet darunter. Walter Laqueur wies in der „Welt“ vom 17. 4. 2009 auf ein Ariel Scharon zugeschriebenes Zitat hin, Amerika sei lediglich eine israelische Kolonie. Geht man dieser Spur nach, die zu einem Interview in einer schwer zugänglichen ungarischen Zeitung führen soll, stellt man rasch fest, daß hier das Hauptproblem offensichtlich nicht in Ungarn, sondern in Deutschland zu suchen und zu finden ist, nämlich in einem reißerischen und rechtslastigen Machwerk des sinnigen Titels „Pulverfaß Nahost“, dem Nolte offenbar aufgesessen war. Doch erschöpft sich in solch einem „Patzer“ keineswegs die gedankliche Tiefe des Nolteschen Werks.

Am 5. 2. 1964 hielt Fritz Bauer, der damalige hessische Generalstaatsanwalt und Initiator der Frankfurter Auschwitzprozesse, in den Räumlichkeiten der Frankfurter Johann-Wolfgang-von-Goethe-Universität einen Vortrag zum Thema „Kriegsverbrecherprozesse und politisches Bewußtsein – dienen KZ-Prozesse der politischen Aufklärung?“, welcher am 7. 3. 1964 in Auszügen von der in Frankfurt am Main erscheinenden antifaschistischen Wochenzeitung DIE TAT veröffentlicht wurde. Fritz Bauer sagt darin: „Nichts gehört der Vergangenheit an, alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden.“
(zitiert nach: Conrad Taler: Asche auf vereisten Wegen. Berichte vom Auschwitz-Prozeß. Mit einem Beitrag von Irmtrud Wojak. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage, PapyRossa Verlag, Köln 2015, S. 160).
Dies muß in keinem Widerspruch zu den Positionen Ernst Noltes stehen. Beides kann sich wunderbar ergänzen – wenn man nur will: Die Aufklärung und Ahndung von NS-Unrecht und die Einordnung des Dritten Reichs und seiner Verbrechen in umfassendere historische Zusammenhänge.

Es ist bedauerlich, zu sehen, was geschieht, wenn man einander nicht zuhört oder aneinander vorbeiredet. Am Historikerstreit zerbrach die Freundschaft zwischen Marcel Reich-Ranicki und Joachim C. Fest. Reich-Ranicki polemisierte heftig, nicht zuletzt in seiner Autobiographie, gegen Nolte. Zu einer Verständigung zwischen Nolte und Reich-Ranicki, die sich sicherlich viel zu sagen gehabt hätten, kam es nie – auch nicht zu einer solchen mit Habermas, und eine Stellungnahme des Überlebenden zum Tod Ernst Noltes liegt (noch?) nicht vor. An uns liegt es indes, beide tatsächlich als Antipoden zu begreifen – als integre, gleichwertige Gegner, die es allein an der jeweils von ihnen erklommenen geistigen Höhe zu messen gilt und deren Werke uns allen noch viel zu geben haben, wenn wir es nur aufzunehmen bereit sind. Daß Nolte in seinen Schriften stets darum bemüht war, seinem einstigen Widerpart gerecht zu werden, dürfte sich für seine künftige Rezeption gewiß als von nicht geringem Vorteil erweisen – der Vorsprung eines (vermeintlich!) Besiegten!



Anmerkung der Redaktion: Die Zitate aus Ernst Noltes „Vergangenheit, die nicht vergehen will“ beruhen auf folgender Internetquelle:  
http://www.1000dokumente.de/index.html/index.html?c=dokument_de&dokument=0080_nol&object=context&st=&l=de

 

Foto: Es heißt im Text: Ein witziges Photo zeigt Preußler und Nolte, beides Kinder des Jahrgangs 1923, jeweils mit einem Hauptwerk des anderen in Händen nebeneinander – den jüngeren mit „Feindliche Nähe“, Noltes Briefwechsel mit dem französischen Historiker François Furet, den älteren mit dem „Räuber Hotzenplotz“. Hier ist es.

(c) Mindener Tageblatt vom 20.2. 2013 mit der Unterschrift: Die beiden Preisträger des Konrad Adenauer Preises 2000, der Historiker Ernst Nolte (l) und Otfried Preußler (r),widmen sich den Büchern ihres Mitpreisträgers. Dieses Foto wurde abgedruckt anläßlich des Todes von Otfried Preußler, dem Ernst Nolte nun nachfolgte.

Literaturempfehlungen:

Ernst Nolte:
Historische Existenz: Zwischen Anfang und Ende der Geschichte?
Neuausgabe
Lau Verlag, Reinbek / München 2015
765 Seiten, EUR 39.80 (DE), EUR 41.00 (AT), sfr 52.90 (freier Preis)
ISBN: 978-3-95768-137-9
EAN: 9783957681379

Ernst Nolte:
Rückblick auf mein Leben und Denken
Lau Verlag, Reinbek / München 2014
240 Seiten, EUR 27.90 (DE), ca. EUR 28.70 (AT), ca. sfr 38.50 (freier Preis)
ISBN: 978-3-95768-023-5
EAN: 9783957680235

Ernst Nolte:
Italienische Schriften. Europa - Geschichtsdenken - Islam und Islamismus.
Aufsätze und Interviews aus den Jahren 1997 bis 2008
Landt Verlag, Berlin 2011
350 Seiten, EUR 39.90 (DE)
ISBN: 978-3-938844-22-9
EAN: 9783938844229

Ernst Nolte:
Späte Reflexionen: Über den Weltbürgerkrieg des 20. Jahrhunderts
Karolinger Verlag, Wien / Leipzig 2011
316 Seiten, EUR 24.00 (DE), EUR 24.00 (AT), sfr 36.00 (freier Preis)
ISBN: 978-3-85418-142-2
EAN: 9783854181422

Ernst Nolte:
Die dritte radikale Widerstandsbewegung: Der Islamismus
Landt Verlag, Berlin 2009
413 Seiten, EUR 39.90
ISBN: 978-3-938844-16-8
EAN: 9783938844168

Siegfried Gerlich:
Ernst Nolte: Portrait eines Geschichtsdenkers
Edition Antaios, Schnellroda 2009
352 Seiten, EUR 22.00
ISBN: 978-3-935063-24-1

Siegfried Gerlich:
Einblick in ein Gesamtwerk. Siegfried Gerlich im Gespräch mit Ernst Nolte
Edition Antaios, Schnellroda 2005
128 Seiten, EUR 12.00
ISBN: 3-935063-61-X
EAN: 9783935063616