Kiew gedenkt der Opfer von Babij Jar nach 75 Jahren


Regula Heusser-Markun

Kiew (Ukraine (Weltexpresso) - Die Massenerschiesßung der Juden, die beim Einmarsch der Wehrmacht noch in Kiew lebten, trägt den Namen der Schlucht Babij Jar (ukrainisch Babij Jar). Am 19. September 1941 war Kiew im Zuge der Operation Barbarossa von Truppen der 6. Armee unter Feldmarschall Walter von Reichenau eingenommen und unter Besatzungsrecht gestellt worden.

Bald darauf erfolgte der Aufruf, sämtliche Juden – die Mehrzahl der 220 000 jüdischen Bürger war bereits ostwärts geflohen – sollten sich unter Mitnahme ihrer Wertgegenstände und warmer Kleidung zwecks Evakuierung am 29. September an einem Sammelpunkt einfinden. Ein Täuschungsmanöver. Die Männer, Frauen und Kinder wurden unter Mithilfe ukrainischer Hilfspolizei aus der Stadt geführt und am Rande der Schlucht, ihrer Habe entledigt, per Genickschuss hingerichtet. Diese Mordaktion, an deren Planung viele Dienststellen mitwirkten und der innert zweier Tage 33 771 Juden zum Opfer fielen, war die größte des bereits zuvor auf ukrainischem Boden aktiven Sonderkommandos unter SS-Standartenführer Paul Bobel. Tausende weiterer Opfer – Psychiatriepatienten, Zigeuner, Kriegsgefangene, Partisanen – fanden in Babij Jar ihren Tod in den drei Jahren der deutschen Besatzung. Und als sich nach der Schlacht um Stalingrad im Winter 1942/43 die deutsche Niederlage abzeichnete, wurden auf Befehl aus Berlin möglichst alle Spuren der Verbrechen auf sowjetischem Boden gelöscht durch Exhumierung und Verbrennung der Leichen. Unter erzwungenem Einsatz von Kriegsgefangenen, worunter viele Juden waren.

Nach dem Krieg war in der UdSSR nicht von Juden als Opfern die Rede, sondern pauschal von «Sowjetbürgern». In Babij Jar ist nebst anderen Denkmälern erst nach der Auflösung der UdSSR eine Menora erstellt worden. In der Ukraine war die Tragödie der Juden lange ein Tabuthema, meint der Kiewer Historiker Borys Zabarko, der als Kind das Ghetto von Scharhorod überlebte und seit 2004 die ukrainische Vereinigung jüdischer ehemaliger Häftlinge der Ghettos und NS-Konzentrationslager präsidiert. Der Initiator von Dokumentationen über antisemitische Schriften und Gewaltdelikte in der Ukraine weiss, dass das offene Reden über diese Verbrechen  – allein in der Ukraine kamen anderthalb Millionen Juden um – auch ein Eingeständnis der Mitschuld notwendig gemacht hätte. «Alle wussten, dass an den Judenverfolgungen nicht nur Deutsche teilnahmen. Man unterstützte die Mörder, liess zu, dass die eigenen unschuldigen Bürger und Flüchtlinge verhaftet, ihres Eigentums beraubt, in die Lager deportiert und dort meist ermordet wurden», schreibt Zabarko im Band «Die Gegenwart bleibt – Nur die Zeit vergeht» von Johannes Czwalina (Basel). Die Publikation, eine Anleitung zum nachhaltigen Frieden dank historischer Aufarbeitung, wird in Kiew auf Einladung der Schweizer Botschaft am 75. Jahrestag des Massakers von Babij Jar vorgestellt. Je eine russische und eine ukrainische Ausgabe besorgte der Kiewer Verlag Duch i Litera von Leonid Finberg.

Ein zweiter Tag der Rückbesinnung – unter anderem mit Aussagen von Zeitzeugen – geht vom ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko aus. Ein starkes Zeichen in einem Land, wo auch andere Signale gesetzt werden, gerade diesen Sommer mit der Ankündigung des Kiewer Stadtpräsidiums, den Moskauer Prospekt neu nach Stepan Bandera zu benennen, was beim Jüdischen Weltkongress Besorgnis auslöste. Immerhin war Bandera an der Ermordung von Juden und Polen beteiligt, indem er sich mit dem Bataillon «Nachtigall» den Deutschen anschloss. Am 30. Juni 1941 bereits prangten an Lembergs Stadttor die Aufschriften «Heil Hitler» und «Es lebe Bandera». Die Arbeit am nachhaltigen Frieden ist noch im Gang.

 

Foto: die Autorin (c) tachles

 
Info: Abdruck aus tachles, dem jüdischen Wochenmagazin vom 30. September 2016.  Regula Heusser-Markun ist Slawistin und Journalistin in Zürich.