Martin Luther und seine Reformation wider Willen
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Die 95 Thesen eines frommen Wittenberger Mönchs und Theologieprofessors veränderten die Welt, die christliche und die politische - mit Folgen bis auf den heutigen Tag.
Doch diese Thesen dürften nicht, wie es die Legende berichtet, am 31. Oktober 1517 an den Türen der Wittenberger Schlosskirche angeschlagen worden sein. Denn die normale, des Lesens und Schreibens weithin unkundige, Bevölkerung verstand zumindest nicht die lateinische Sprache, in der die Thesen - wie alle kirchlichen und theologischen Schriften - abgefasst waren. Zudem wollte Martin Luther, Augustiner-Mönch und Professor, mit ihnen eine theologisch-wissenschaftliche Diskussion in Gang setzen, an welcher er das Volk weder beteiligen wollte noch konnte. Vielmehr sandte er seine Kritik am Ablasswesen an den Erzbischof von Mainz, den Kurfürsten Albrecht von Brandenburg.
Mit Verweis auf Paulus‘ Römerbrief, der nach Luthers Auffassung von der Gewissheit der Gnade Gottes getragen wäre, bestritt er die Notwendigkeit einer sakramentalen Vermittlung zwischen sündigem Mensch und Gott. Der quasi kommerzielle Ablasshandel (von der Kirche ausgegebene Papiere, mit denen sich die Gläubigen die Vergebung erkaufen konnten), würde das schon gar nicht leisten können.
Im März 1518 veröffentlichte Luther seine auf Deutsch verfasste Schrift „Sermon von dem Ablass und der Gnade“. Zwischenzeitlich waren seine Thesen bereits ohne sein Wissen und seine Zustimmung ins Deutsche übertragen und verbreitet worden und hatten sowohl in den gebildeten als auch in den einfachen Schichten breite Zustimmung ausgelöst.
Im April nahm er an der „Heidelberger Disputation“ des Augustinerkonvents teil, auf der er seine Thesen ausführlich erläuterte. Er traf dort auf die späteren Reformatoren Philipp Melanchthon, Martin Bucer und Johannes Brenz, die seine Kritik an der so genannten Werkgerechtigkeit (gute Werke stimmen Gott gnädig gegenüber dem in Erbsünde gefangenen Menschen) unterstützten. Doch Albrecht von Brandenburg hatte Luthers Brief mit den 95 Thesen längst nach Rom weiter gesandt und erhoffte sich von dort Unterstützung, um den aufsässigen Mönch zum Schweigen zu bringen. Wie zu erwarten, verwarf Rom die Thesen als ketzerische Schrift.
Danach überstürzten sich die Ereignisse:
Im Oktober findet ein Verhör durch den päpstlichen Legaten in Augsburg statt; Luther erwartet wegen seiner unbeugsamen Haltung daraufhin den päpstlichen Bann. Im Dezember lehnt Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen das Auslieferungsgesuch des Papstes ab. Im Januar 1519 stirbt Kaiser Maximilian I., im Juni wird sein Enkel Karl als Karl V. zum Nachfolger gewählt. Im Juli kommt es zu einer Disputation zwischen dem Theologen Johannes Eck und Luther in Leipzig, in der letzterer die Unfehlbarkeit des Papstes sowie das Recht eines Konzils, Lehrmeinungen festlegen zu können, bestreitet.
Im anschließenden Jahr 1520 wird der päpstliche Prozess gegen Luther fortgeführt. Ihm, der nun erkennbar nach größeren kirchlichen Reformen strebt, treten Franz von Sickingen und Ulrich von Hutten unterstützend zur Seite. Im August veröffentlicht Luther seine Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“. Darin forderte er die weltliche Obrigkeit auf, angesichts der kirchlichen Reformunfähigkeit die Erneuerung der Kirche an Haupt und Gliedern selbst in die Hand zu nehmen. Er plädiert für ein Bildungswesen unter staatlicher Aufsicht und sieht den Staat in der Pflicht, eine organisierte Armenfürsorge zu betreiben. Außerdem spricht er sich für die Abschaffung des Zölibats und für die Auflösung des Kirchenstaats aus. Theologisch bedeutsam ist die Forderung nach dem Priestertum aller Getauften, das die kircheninterne Trennung von Klerikern und Laien beenden soll. Vehement bestreitet er der Kirche das Recht, Steuern und vergleichbare Abgaben erheben zu dürfen. Damit löst er im niederen Adel und bei den Rittern eine Welle der Sympathie aus.
In seiner bald darauf folgenden zweiten Hauptschrift „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche“, die auf Latein verfasst und sich vor allem an die Theologen wendet, kritisiert Luther die katholische Sakramentenlehre.
In der dritten Hauptschrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, die ebenfalls noch im Jahr 1520 erscheint, äußert er sich zu Paulus‘ Feststellung im Galaterbrief „Ihr aber, liebe Brüder, seid zur Freiheit berufen“ und entwirft ein Verständnis von Freiheit im Sinn des Evangeliums - zumindest wie er es interpretiert. Ein Christ lebe mit zwei Perspektiven: Die eine vollziehe er im Blick auf Gott (coram Deo), die zweite im Blick auf die Welt (coram mundo). Im Blick auf Gott, der den Sünder allein durch Gnade rechtfertige, sei der Mensch von Werken frei. Im Blick auf die Welt hingegen müsse sich der Glaube bewähren und in guten Werken manifestieren.
Hier klingt bereits Luthers spätere Zwei-Reiche-Lehre an. Nach ihr existiere jeder Christ in zwei Bereichen („Regimentern“), dem weltlichen, in dem das „Gesetz des Schwertes“ gelte, und dem geistlichen, in dem das göttliche Wort verbindlich sei.
Am 17. und 18. April 1521 verteidigt Luther seine Schriften vor dem Reichstag in Worms und verweigert den geforderten Widerruf. Daraufhin wird im Mai die Reichsacht über ihn verhängt und seine Schriften werden verboten (Wormser Edikt). Gleichzeitig wird den Landesfürsten das Recht eingeräumt, in ihren Ländern die Konfession zu bestimmen. Zum Schein wird Luther auf Anordnung des Kurfürsten von sächsischen Soldaten gefangen genommen und zu seinem Schutz auf die Wartburg bei Eisenach verbracht, wo er mit der Übersetzung des Neuen Testaments aus dem griechischen Urtext ins Deutsche beginnt.
Die Reformation als kirchliche und politische Bewegung ist indes nicht mehr aufzuhalten. In Wittenberg kommt es zu religiösen Unruhen. Im Frühjahr treten erste Mönche und Nonnen aus den Klöstern aus. In der Schweiz wurde unter Führung von Zwingli bereits eine neue, die reformierte Kirche im Ansatz begründet. Im Juni 1524 beginnt im Schwarzwald der Bauernaufstand. Dessen Anführer Thomas Münzer wirft Luther Rücksichtnahmen auf den Adel und die Fürsten vor. Auch in Sachsen und Thüringen kommt es zu Aufständen der Bauern. Luther predigt und schreibt dagegen an, was seiner Popularität erheblich schadet. Mit seinem Gesinnungsfreund Bodenstein, genannt Karlstadt, überwirft er sich. Im Juni heiratet er, nachdem er das Mönchsgewand abgelegt hatte, die ehemalige Nonne Katharina von Bora.
Auf dem Reichstag zu Speyer im April 1529 wenden sich sechs Fürsten und vierzehn Freie Reichsstädte gegen die Verhängung der Reichsacht gegen Luther und fordern die ungehinderte Verbreitung des evangelischen Glaubens, gemäß dem Wormser Edikt. Dies Ereignis gilt als die Geburtsstunde des Protestantismus. Auf dem Augsburger Reichstag von 1530 werden die faktisch bereits vorhandenen protestantischen Kirchen mit eigenen Gottesdienst- und Rechtsordnungen als selbstständige Landeskirchen bestätigt. Das findet im Augsburger Bekenntnis seinen Ausdruck, welches dem Kaiser übergeben wird. Bis zum Ende der Monarchie in Deutschland, also bis zum November 1918, bleiben diese Ordnungen im Wesentlichen in Kraft.
Die inhaltlichen Schwerpunkte der Reformation und die Grundüberzeugungen der Protestanten, die direkt auf Luthers theologisches Denken zurückzuführen sind, lauten:
Sola gratia: Allein durch die Gnade Gottes wird der glaubende Mensch errettet, seine Werke vermögen es nicht. Sola fide: Allein durch den Glauben wird der Mensch gerechtfertigt. Sola scriptura: Allein die biblischen Schriften sind Grundlage des christlichen Glaubens, nicht die kirchliche Tradition. Solus Christus: Allein die Person, das Wirken und die Lehre Jesu Christi können Basis für den Glauben und die Errettung des Menschen sein.
Martin Luther selbst bleibt im Rückblick eine ambivalente Persönlichkeit. Die Entschiedenheit seines Glaubens gilt vielen Christen bis heute als vorbildlich; seine Diffamierung der Juden, in denen er zunächst Bündnispartner sah, war eine der Ursachen für den christlichen Antijudaismus, gar den Rassismus. Dass er Kirche und Staat eine jeweils eigene Ethik zuerkannte, führte wiederholt dazu, dass der christliche Glauben von politischen Herrschern instrumentalisiert wurde. Das bereits jetzt einsetzende Erinnerungsjahr an die Reformation, die am 31. Oktober 1517 begann, sollte Luther vor allem als sprachgewaltigen Bewahrer und Neuschöpfer der deutschen Sprache im Bewusstsein halten.
Eine befriedigende Antwort auf die Frage nach der Existenz Gott sind die Kirchen auch nach 500 Jahren im Wesentlichen schuldig geblieben. Und misst man beide Konfessionen an ihrer Glaubenspraxis, so scheint das Fürwahrhalten dessen, was von ihnen gepredigt wird, nicht von Überzeugung getragen zu sein.