Der BGH und die „kleinen Rädchen“ der NS-Mordmaschine

Kurt Nelhiebel

Weltexpresso (Bremen) - Als der SS-Mann Oskar Gröning zu Beginn seines Prozesses in „Demut und Reue“ seine Mitschuld am Massenmord von Auschwitz bekannte, waren auch Juristen  beeindruckt. Das sei ein neuer Akzent in der unguten Geschichte der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen, schrieb Heribert Prantl in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 22. April 2016. 

Diese Geschichte sei eine furchtbare, eine elende und traurige Geschichte, geprägt von einer widerwilligen Justiz. Der Prozess gegen Gröning endete mit einer Gefängnisstrafe von vier Jahren. Der Angeklagte hatte sich nach Ansicht des Lüneburger Landgerichts der Beihilfe zum Mord an mindestens 300 000 Menschen schuldig gemacht.

War das wirklich ein neuer Akzent in der strafrechtlichen Bewertung von NS-Verbrechen? Bis dahin musste Beschuldigten nachgewiesen werden, dass sie persönlich an einer Tötungshandlung beteiligt waren. Selbst Hitler und der oberste SS-Führer Himmler hätten von einem deutschen Gericht nur schwer belangt werden können, waren sie doch weder in Auschwitz dabei noch in Babi Yar, wo binnen 36 Stunden mehr als 30 000 jüdische Männer, Frauen und Kindern abgeschlachtet wurden. Zu Beginn der Gerichtsverhandlung gegen Gröning fragte Günther Jauch die Gäste seiner Talkshow: „Was bringt ein Prozess gegen einen 93jährigen SS-Greis?“  Er hätte lieber fragen sollen: Warum hat man den Mann nicht schon längst zur Rechenschaft gezogen. Dann wäre vielleicht die elende, traurige Geschichte zur Sprache gekommen, von der Heribert Prantl gesprochen hat.

Haupthindernis war die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, die den persönlichen Tatnachweis verlangte. Fast ein halbes Jahrhundert hat es gedauert, ehe das höchste deutsche Strafgericht jetzt den Versuch unternahm, über den eigenen Schatten zu springen. Es wies die Revision Grönings zurück. Damit wurde das Lüneburger Urteil rechtskräftig. Eine rechtliche Kehrtwende war es nicht. Der Bundesgerichtshof hebt in seinem Beschluss vom 20. November ausdrücklich hervor, dass die darin dargelegte Rechtsauffassung „nicht im Widerspruch zur Rechtsprechung anderer Senate des Bundesgerichtshofs“ steht.

Wie sagte doch der sozialdemokratische Rechtswissenschaftler und ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht, Martin Hirsch: „Juristen sind zu allem fähig.“ (Der Spiegel, 25.5.1981)  Am 20. Februar 1969 hatte der BGH geurteilt, nicht jeder „der in das Vernichtungsprogramm des Konzentrationslagers Auschwitz eingegliedert“ gewesen und dort „irgendwie anlässlich  dieses Programms tätig“ geworden sei, sei „objektiv an den Morden beteiligt“ gewesen „und für alles Geschehene verantwortlich“. Damit bestätigte der BGH den Freispruch eines der Angeklagten im 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess, der nach jetziger Rechtsauffassung verurteilt werden müsste.

Den Beteiligten an der jetzigen Entscheidung scheint die Unvereinbarkeit ihrer Argumentation mit früheren Darlegungen des Bundesgerichtshofes bewusst gewesen zu sein. Salopp halfen sie sich aus der Klemme: Dem sei indes nicht näher nachzugehen, erklärten sie. Dazu seien die Sachverhalte zu unterschiedlich. Der Angeklagte Gröning sei nicht „irgendwie anlässlich des Vernichtungsprogramms“ tätig gewesen. Vielmehr seien „konkrete Handlungsweisen des Angeklagten mit unmittelbarem Bezug zu dem organisierten Tötungsgeschehen in Auschwitz“ festgestellt worden.  Für derartige Sachverhalte sehe sich der Senat in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung. Zu den konkreten Handlungen Grönings rechnet der BGH neben den „Rampendiensten“ bei der Ankunft von Transporten die Bewachung des  zurückgelassenen Gepäcks der Opfer und die Aufgabe, das Geld der Deportierten zu sortieren, zu verbuchen und nach Berlin zu transportieren. Nur weil den NS-Machthabern eine organisierte „industrielle Tötungsmaschinerie“ mit willigen und gehorsamen Untergebenen zu Verfügung stand, so der BGH,  hätten die Verbrechen begangen werden können.

Mit dieser Argumentation bestätigte der Bundesgerichtshof halbherzig die Rechtsauffassung des 1968 verstorbenen hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer, wonach die Tötungsmaschinerie der Nazis – vereinfacht gesagt -  ohne die „kleinen Rädchen“ nicht hätte funktionieren können.  „Wer an dieser Mordmaschine hantierte, wurde der Mitwirkung am Morde schuldig, was immer er tat“, argumentierte Fritz Bauer, „selbstverständlich vorausgesetzt, dass er das Ziel der Maschinerie kannte, was freilich für die, die in den Vernichtungslagern waren oder um sie wussten, von der Wachmannschaft angefangen bis zur Spitze, außer jedem Zweifel steht.“ Am Ende der Beweisaufnahme im Auschwitz-Prozess beantragte die Anklagevertretung auf Bauers Drängen, das Gericht möge die Angeklagten darauf hinweisen, dass in ihrer Anwesenheit in Auschwitz eine „natürliche Handlungseinheit gemäß § 73 StGB gesehen werden kann, die sich rechtlich, je nach den subjektiven Voraussetzungen im Einzelfall, als psychische Beihilfe oder Mittäterschaft zu einem einheitlichen Vernichtungsprogramm qualifiziert“. Ein konkreter Tatnachweis war dazu nach Ansicht des hessischen Generalstaatsanwalts nicht notwendig. Diese Rechtsauffassung wurde vom Gericht und vom Bundesgerichtshof damals verworfen.

Wie so oft war Fritz Bauer seiner Zeit weit voraus. Ob der BGH mit seiner jetzigen Entscheidung wirklich Rechtsgeschichte geschrieben hat und ob sie tatsächlich das späte Schlusswort zu einem unseligen Kapitel auch seiner eigenen Geschichte war, wie Wolfgang Janisch in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 29. November bemerkt, bleibt abzuwarten.

 

Foto: Der Hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der nicht nur juristisch seiner Zeit voraus war (c) CF-Films