Die CDU auf der Suche nach verlorenen Göttern der Vergangenheit

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Hessens CDU möchte Gott in eine neugefasste Landesverfassung aufnehmen.


Ein guter Pastor ersetzt hundert Polizisten, sagte man einst im preußischen Staat. Doch solch ein obrigkeitshöriger Pastor bedarf auch eines konstitutionellen Gottes.

„Mit Gott für König und Vaterland“ war ein Leitspruch des Preußenkönigs Friedrich Wilhelms III, der vielfach abgewandelt wurde. Im Zeitalter des wiedererstarkten deutschen Nationalismus nach dem Wiener Kongress von 1815 und speziell nach der Reichsneugründung von 1871 lautete er beispielsweise „Vorwärts mit Gott für König und Vaterland“; auf den Koppelschlössern der Wehrmacht prangte über Reichsadler und Hakenkreuz „Gott mit uns“. Die weltliche Macht, vor allem die demokratisch nicht legitimierte, berief sich gern auf das religiöse Bild von einer höchsten Autorität, die auch als Ursprung des Staats und als Rechtfertigung seiner Herrschaftsverhältnisse postuliert wurde.

Das wirft die Frage auf: Wer oder was ist Gott? Im christlichen Kulturkreis liegt es nahe, sich bei der Ursprungsreligion auf die Suche zu begeben, also im Judentum. Doch wenn man sich durch die schriftlichen Glaubenszeugnisse aus über 1200 Jahren arbeitet, stößt man überraschenderweise auf ein Gottesbild, das der Dynamik seiner jeweiligen Zeit unterlag und als Variable erscheint. Diesem Gott fehlte alles, um sich ein Bild von ihm machen zu können oder ihm einen eindeutigen Namen zu geben, geschweige denn um seinen (gedachten, hypothetischen) Namen auszusprechen - siehe das dritte Gebot des Dekalogs (Exodus, Kapitel 20, Verse 2 - 17, und Deuteronomium, Kapitel 5, Verse 6 - 21). Der jüdische Philosoph Philo von Alexandria, der etwa zur Zeit Jesu lebte, begründete sogar eine negative Theologie, die lediglich dazu in der Lage war auszusagen, wer oder was Gott eben nicht sein kann. Obwohl Philo davon überzeugt war, dass Gott als „der Seiende“ existieren würde.

Der Sozialpsychologe Erich Fromm hat in Anlehnung an den Neukantianer Hermann Cohen („Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“, 1919) in seiner Untersuchung „Ihr werdet sein wie Gott“ (1966) darauf hingewiesen, dass das jüdische Gottesbild einem evolutionären Prozess unterworfen war und Gott demzufolge lediglich ein dynamisches Geschehen sein kann.

In einer ersten Entwicklungsstufe wird Gott als absoluter Herrscher dargestellt. Er hat die Natur, die Tiere und den Menschen geschaffen. In diesem archaischen Bild ist gleichzeitig die Rivalität zwischen Gott und Mensch angelegt. Denn der Mensch könnte Gott werden, wenn er die Früchte vom Baum der Erkenntnis und die vom Baum des Lebens essen würde. Um sich zu schützen, vertreibt Gott den Menschen aus dem Paradies und beschränkt das menschliche Leben auf maximal 120 Jahre; dadurch beendet er dessen Rebellion im Frühstadium. Bezeichnenderweise spricht die christliche Tradition von Sünde, ordnet den Konflikt also in die Kategorien „gut“ und „böse“ ein. Der hebräische Originaltext gibt das jedoch nicht her.

Der Mensch hat das Paradies verloren, in dem er letztlich fremdbestimmt war, und hat das Reich der Freiheit betreten, nämlich die von ihm selbst bestimmte menschliche Geschichte. Nur einmal wird diese neue Freiheit bedroht, als Gott mit der Sintflut seinen potentiellen Herausforderer bedroht. Doch Gott bereut seinen Entschluss, weil dadurch der Sinn der Weltschöpfung selbst infrage gestellt wird. Er schließt einen Bund (hebräisch: b‘rit) mit den Menschen, der durch den Regenbogen symbolisiert wird. Gott ist nicht mehr der absolute Herrscher, er und der Mensch sind Vertragspartner geworden.

Die zweite Phase des jüdischen Gottesbegriffs zeigt sich in der Geschichte von Sodom und Gomorra. Abraham widerspricht seinem Gott, als dieser ihm die Vernichtung der vermeintlich gottlosen Orte ankündigt: „Willst du auch den Gerechten mit den Gottlosen wegraffen? Vielleicht gibt es fünfzig Menschen in der Stadt. Willst du auch sie wegraffen und nicht doch dem Ort vergeben wegen der fünfzig Gerechten dort? Der Richter über die ganze Erde sollte sich nicht an das Recht halten?“ Daraufhin feilscht Abraham um die Anzahl der Gerechten und Gott willigt ein, selbst beim Vorfinden von nur zehn Gerechten von seinem Strafgericht abzusehen (Genesis, Kapitel 18, Verse 23 - 32). Das Gottesbild ändert sich; denn der Mensch kann Gott zur Rechenschaft ziehen, genauso wie Gott den Menschen zur Verantwortung rufen kann. Beide sind fortan an festgelegte Prinzipien und Normen gebunden.

Die dritte Phase der Evolution des Gottesbegriffs vollzieht sich bei der Übergabe der Gesetzestafeln an Moses auf dem Berg Sinai und bei der Antwort auf dessen Frage, welchen Namen Gott eigentlich führe. Gott offenbart sich als der Gott der Geschichte, also als einer, der handelnd in die Geschichte (des jüdischen Volkes) eingreift und die gegenseitigen Beziehungen in Normen fasst, die auf steinernen Tafeln zu lesen sind.
Doch dieser Offenbarungsakt spitzt sich weiter zu, denn Moses möchte wissen, welchen Namen Gott trägt. Üblicherweise trugen die Götzen der alten Hebräer, also vor der monotheistischen Zeit, Namen. Daraufhin gibt auch Gott sich einen Namen und nennt sich „Ich bin der »Ich bin da«“ (Exodus, Kapitel 3, Vers 14). Das bedeutet im Klartext so viel wie „Namenlos“. Denn nur Götzen tragen Namen, weil sie dinglich sind. Martin Luther hat es weniger präzise übersetzt, er formulierte „Ich bin der, der ich sein werde“. Allerdings deutet auch dieser Begriff den Horizont einer dynamischen Entwicklung an.

Ein moderner protestantischer Theologe, Herbert Braun (1903 - 1991), ist diesem Ideengang am weitesten gefolgt als er die Frage nach Gottes Namen und Gottes Wesen so beantwortete: „Gott heißt das Woher meines Umgetriebenseins, das Woher meines Geborgen- und meines Verpflichtetseins vom Mitmenschen her.“ Und er fasste seine Erkenntnis so zusammen: „Der Mensch als Mensch, der Mensch in seiner Mitmenschlichkeit, impliziert Gott.“

Was also soll man der hessischen CDU und den hessischen Kirchen sagen, wenn sie Gott in eine neugefasste Landesverfassung aufnehmen wollen? Die einen sollte man nachdrücklich dazu auffordern, von der menschenfeindlichen „Mit Gott“-Ideologie endlich Abstand zu nehmen. Und den anderen sollte man raten, die eigenen Bekenntnisschriften samt ihrer Theologie ernst zu nehmen und keiner undifferenzierten Volksfrömmigkeit Zugeständnisse zu machen. Denn in der Verfassung geht es um den Menschen.